Kiss & Tell Redakteur Thomas Kern über die Abgründe der Medienwelt
Kann es sein, dass der Begriff „Kreativer“ zu einem Schimpfwort verkommen ist? Woher kommt dieses leichte Gefühl der Scham, das man plötzlich verspürt, wenn man Menschen außerhalb der eigenen Hipster-Bubble erklären muss, was genau man eigentlich so als Nager im Hamsterrad der Kreativwirtschaft macht?
Oder im schlimmsten Fall noch – or ÄH – im Marketing tätig ist? Zu der Gruppe verhasster Agenturen-Menschen gehört, die das Image des Golden Milk-Schlürfenden, Überkritischen aber Selbernichtsaufdiekettekriegenden angeheftet bekommen haben? Wurden früher Künstler, Schriftsteller und Autoren noch auf besondere Weise verehrt, weil sie glaubhaft machen konnten, etwas zu leisten, was nicht jeder kann, hat sich das Bild heute um gefühlt 180 Grad gewandelt. Oder wenigstens 130 Grad.
Doch warum?
Die offensichtlichste Antwort: Das Wörtchen „kreativ“ hat sich selbst entwertet. Jeder kann im Jahr 2018 etwas produzieren, sein Werk veröffentlichen und mit ein wenig Geschick durch die Algorithmen von Facebook und Google spülen und so tausenden Menschen zugänglich machen. Der Markt ist überflutet mit selbsternannten Künstlern und die meisten von ihnen sind schlecht. Klar zieht das automatisch den Marktwert des einzelnen Kreativen herunter. Wir haben es mit einem Überangebot an Kreativität (oder zumindest an dem, was sich dafür hält) zu tun. Dabei ist das, was mittlerweile unter dem Label „kreativ“ verbucht wird, deutlich vielseitiger, als noch vor 20 Jahren.
„Der Markt ist überflutet mit selbsternannten Künstlern und die meisten von ihnen sind schlecht.“
Früher gab es Musiker, Schriftsteller, Maler vielleicht noch Moderatoren und die besonders Versierten, die Alleskönner hatte man noch das Siegel „Entertainer“ – das war‘s. Heute gibt es zu alledem Texter, Blogger, Grafiker, Designer, Influencer oder – besonders heftige Wortschöpfung des YouTube-Zeitalters – den „Creator“.
Das Privileg, sich als Kreativer oder gar Kunstschaffender bezeichnen zu dürfen, ist damit hinfällig. Es ist keines mehr. Beinahe jeder kann mit ein wenig Glück und den richtigen Kniffen kurzfristig Fame kriegen und sich davon zumindest eine Weile über Wasser halten. Mit einem fancy Twitter-Account. Dem eigenen Fitness-Insta-Profil. Dem „Ich esse Süßigkeiten aus exotischen Ländern“-YouTube-Kanal. Dem Menstruations-Podcast.
„Beinahe jeder kann mit ein wenig Glück und den richtigen Kniffen kurzfristig Fame kriegen und sich davon zumindest eine Weile über Wasser halten.“
Das große „Aber“
Das sind in vielen Fällen jedoch Kurzzeiterfolge. Und genau das macht Beständigkeit heute zur Währung des Kreativen. Einmal aus der Masse herauszustechen mag vielleicht dem ein oder anderen noch gelingen und schließlich findet auch ein blindes Huhn mal ein Korn. Aber wie viele schaffen es schon, immer wieder neu an den Start zu kommen und beständig erfolgreich zu bleiben, Anerkennung zu erhalten oder zumindest regelmäßig Aufmerksamkeit bekommen? Im Idealfall sogar dauerhaft von kreativer Tätigkeit zu leben?
Deshalb beschleicht den „echten Kreativen“ auch das besagte Schamgefühl – weil er ganz genau weiß, mit wie vielen gescheiterten Existenzen er sich das Becken teilen muss. Im Kopf muss die Trennlinie aber eigentlich ganz woanders gezogen werden. Zwischen dem beständigen Kreativen und dem temporär Werktätigen auf dem Smoothie-Strich.
Oder existiert das Problem überhaupt nur innerhalb der eigenen Medienmenschen-Filterbubble und Tante Gerda, der wir zum 60. Geburtstag versuchen zu erklären, mit was wir so unsere Brötchen verdienen, findet’s eigentlich mega spannend?
„Sind temporäre Content-Creators so etwas wie die Malle-Touristen der Kreativwirtschaft, die den Ruf derer zerstören, die es wirklich ernst meinen?“
Ist es eine Art Reflex, den wir manchmal verspüren, wenn wir ungewollt auf einen Branchen-Kollegen treffen, mit dem wir uns doch eigentlich nicht gemein machen wollen? Ähnlich eines deutschen Touristen im Ausland, der sein Urlaubsziel nur für sich haben will und es so abstoßend findet, auf andere Deutsche zu treffen, dass er sich nicht als Landsmann zu erkennen gibt? Der sich mit dem Weiße-Socken-und-Sandalen-Träger nicht gemein machen möchte? Sind temporäre Content-Creators so etwas wie die Malle-Touristen der Kreativwirtschaft, die den Ruf derer zerstören, die es wirklich ernst meinen? Die sich auf die Fahne geschrieben haben, die wirklich ganz ernsthaft echten Kreativen zu sein? Ist das alles nicht nur ein Problem in unserer ureigenen Bubble besteht?
Ich kann nicht länger darüber nachdenken, meine Matcha Latte wird kalt und mein Haul-Video muss bei YouTube hochgeladen werden..