Thomas Kern über die Vor- und Nachteile der Gentrifizierung
Juchhei! Habt ihr in den vergangenen Tagen die Nachrichten verfolgt? Leipzig gehört zu DEN Wachstumsstädten Deutschlands! Nach „Hypezig“, den vielen neuen Motel Ones und nach Foodkurt eigentlich keine große Überraschung, oder? Als gebürtiger Leipziger weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen oder einfach nur schreien soll, denn der klassische lokalpatriotische Zwiespalt hat sich langsam, aber sicher zum Dauerzustand entwickelt.
Seit Jahren schlingert er irgendwo zwischen unbändigem Stolz auf die eigene Stadt und dem Abkotzen über deren Mainstreamisierung.
Spulen wir zurück ins Jahr 2010: Zum ersten Mal befindet sich mein Lebensmittelpunkt nicht in meiner Heimatstadt. Genauer gesagt residiere ich in Florida. Mit meinem Toshiba-Laptop habe ich mich kürzlich auf einer ziemlich gehypten Plattform namens Facebook angemeldet und teile dort einen New York Times-Artikel, der mich stolz macht: Leipzig, MEIN kleines Leipzig, ist also in der Liste der „31 Places to Go in 2010“ gelandet. Was für ein Ritterschlag.
Die Kommentare meiner westdeutschen Freunde reichen von belächelnd bis abschätzig. Ein schwäbischer Kollege will mich mit „Kern, niemanden interessiert das“ ärgern. Ein aufstrebender Berliner Rapper aus meinem erweiterten Bekanntenkreis fragt mit ironischem Unterton: „Thomas, wir spielen nächste Woche in Leipzig aka dem „new Berlin“. Kennst du jemanden, bei dem wir pennen könnten?“
Mittlerweile wohnt einer der beiden in Gohlis und geht wöchentlich zu RB ins Stadion, der andere kommt gerne zum Saufen in die Stadt, weil er das Weggehen im prätentiösen Berlin nicht mehr ertragen kann. Im Englischen würde man jetzt sagen: That’s how the story goes.
Man kann es ihnen nicht verübeln. Ich denke, ich brauche die Gründe nicht aufzuzählen, warum ich diese Stadt liebe. Aber wie geht man als Alteingesessener damit um, diesen einzigartigen Schatz mit immer mehr Leuten teilen zu müssen? Nicht mehr im Geheimtipp zu leben, sondern in DER Trendstadt? Wie geht man damit um, dass in deinem Hinterhof plötzlich zwanzigjährige Milchgesichter regelmäßig Schrabbeltechnofestivals mit Diskokugel für sich und ihre Kommilitonen veranstalten?
Wie genervt darf man von Niedersachsen sein, die einem im Vorbeigehen „JA DER GLOBUS DÖNER SOLL JA AUCH MEGA NICE SEIN“ entgegenblöken, wenn man aus der Haustür tritt? Soll man sich im Zug umdrehen und besserwisserisch intervenieren, wenn das junge Pärchen, das hinter dir im Reiseführer blätternd debattiert, ob man lieber abends in Auerbachs Keller oder im Panorama-Tower essen gehen sollte?
„Es ist ein bisschen, wie wenn du mit 16 Jahren DEINE Band für dich entdeckst.“
Es ist ein bisschen, wie wenn du mit 16 Jahren DEINE Band für dich entdeckst. Natürlich weit abseits der Charts. Weit weg vom Mainstream. Sie ist dein eigener kleiner Schatz. Dein funkelndes, wertvolles Fundstück. Nur du und eine kleine Elite von Gleichgesinnten wissen, dass sie existiert. Du gehst in die kleinen Clubs, um sie live zu hören, mit einem kleinen versprengten Publikum, das genau so verrückt ist wie du. Und plötzlich kommt Universal und nimmt sie unter Vertrag. Und dann kommt ihre erste „große“ Platte raus. Der Top 10 Charteinstieg. Und die große Tour in den Fünftausender-Hallen. Und du beschwerst dich über all die Opfer, mit denen du deinen Schatz plötzlich teilen musst.
Mit deiner Heimatstadt ist das sogar noch viel schwerer. Du entscheidest dich ja nicht für sie, und wenn sie nicht so performt, wie du es gerne hättest, lässt du sie links liegen. Sie ist deine fucking Heimat. Du bist in ihr, du lebst sie, fühlst sie, bist sie. Aber plötzlich glaubst du, sie nicht wieder zu erkennen.
Dabei vergisst du all die positiven Faktoren, die mit der Entwicklung eigentlich einhergehen: Dass du an Wochenenden, an denen es früher genau eine relevante Veranstaltung gab, heute die Auswahl zwischen drei und zehn Optionen hast.
Dass es manchmal den Blick der Leute von außen braucht, um das Potenzial für neue Cafés, Geschäfte und Clubs zu erkennen und Dinge einfach umzusetzen. Dass hier interessante Menschen mit spannenden Biografien herkommen. Dass deine Stadt diesen Menschen gegenüber offener wird. Diverser, abwechslungsreicher, scheuklappenfreier. Dass ganze totgeglaubte Stadtviertel aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.
Klar will ich damit nicht die Gefahren dieser Entwicklung verschleiern: Die unsägliche Wohnraum- und Mietproblematik, die in Leipzig immer noch am Anfang steht, aber auch hier nicht so schnell Halt machen wird. Die Lost Places, die Leipzig früher ihren morbiden Charme gegeben haben und nun nacheinander buchstäblich „lost“ gehen. Die langfristige Aussicht, zu einem geleckten München zu verkommen, einer Stadt, in der sich Normalsterbliche einfach keine Wohnung mehr leisten können.
„Noch sitzen ein paar Kulturschaffende mit Vertretern der Stadt am Tisch.“
Aber: Noch sitzen ein paar Kulturschaffende mit Vertretern der Stadt am Tisch. Und noch verweisen sie zurecht darauf, dass Leipzig seinen Coolness-Status überhaupt erst erlangt hat, WEIL es hier Orte wie die Tille gibt, die nun fancy Bauprojekten weichen sollen. Die auf die Ironie aufmerksam machen, dass Anwohner, die den rauen Charme von Reudnitz fühlen wollen, sich über die Lautstärke des 4Rooms beschweren und sich freuen, wenn der neue Investor den Laden kickt. Hoffen wir, dass berechtigte Bedenken gehört werden.
Als die ersten südostasiatischen Länder das Geschäftsmodell Tourismus für sich entdeckten, wurden sie nach und nach innerhalb weniger Jahre von den Travellerströmen aus dem Westen überrannt. Im kleinen Land Bhutan beobachtete man diese Entwicklung mit Argwohn und entschied sich für den sanften Weg der touristischen Öffnung. Wäre doch geil, wenn man so etwas auch städtetechnisch realisieren könnte. Geführte Touren durch das natürliche Habitat alteingesessener Leipziger. Mega! Obwohl, vielleicht lieber nicht.
Fun Fact: Bhutan war 2018 auf Rang 9 der New York Times-Places to Go-Liste. Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Omen? Lasst uns in ein paar Jahren noch mal sprechen…
Bilder von amoureuxee
Chris
Guter Artikel, Thomas. Die Tille wollen Sie schon seit 2006 oder noch früher schließen^^
Früher gab’s da noch nicht mal eine Verbindungsstraße