Über Perspektiven und Vielfalt im Bücherregal
Vor einiger Zeit bin ich auf den TED Vortrag (TED steht für Technology, Entertainment, Design und betitelt eine alljährlich Innovations-Konferenz in Kalifornien) der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie gestoßen: „The danger of a single story“.
Darin erzählt Adichie unter anderem, dass sie mit britischen und amerikanischen Kinderbüchern groß geworden ist. Ihre ersten eigenen Geschichten brachte sie im jungen Alter von sieben Jahren mit Buntstiften zu Papier. Diese Geschichten handelten von weißen blau-äugigen Kindern, die im Schnee spielten, Äpfel aßen und sich gern übers Wetter unterhielten. Jedoch gab es in Adichies eigenem Leben keinen Schnee, anstelle von Äpfeln aß sie Mangos und sich mit anderen übers Wetter zu unterhalten fand nicht statt, weil es unnötig war. Sie lebte schließlich in Nigeria. Allerdings gab es damals in Nigeria keine Bücher über Menschen, die so aussahen und so lebten wie sie selbst und so glaubte die junge Adichie, dass Bücher eben ausschließlich von weißen Menschen handeln.
In ihrem Vortrag sagt sie: „The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story.“ (Zu deutsch: „Die einzige Geschichte formt Klischees. Und das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern dass sie unvollständig sind. Sie machen eine Geschichte zur einzigen Geschichte.“)
Ihr Vortrag hat mich bewegt, kam mir aber erst wieder so richtig ins Bewusstsein als sich mein Instagram Feed mit schwarzen Kacheln füllte. Dies geschah vor nunmehr zwei Monaten und Anlass für die schwarzen Kacheln gab der brutale Mord an dem Schwarzen Amerikaner George Floyd durch die lokale Polizei. Seit nunmehr fast zwei Monaten ist eine wichtige Debatte über uns herein gebrochen. Eine Debatte, die in ihrer Dringlichkeit längst überflüssig war und beschämenderweise erst durch diesen sinnlosen Tod mit voller Wucht ihren Auslöser fand. Die Debatte handelt von Rassismus und vom eigenem Erwachen.
„Romane konfrontieren mich mit möglichen und unmöglichen Geschichten, weiten dadurch meinen Blick und ermöglichen neue bzw. andere Perspektiven.“
Was ich an Büchern bzw. Romanen sehr schätze ist, dass sie mich einfach mitnehmen. Sie führen mich an allerlei Orte, in allerlei Zeiten und Welten. Romane konfrontieren mich mit möglichen und unmöglichen Geschichten, weiten dadurch meinen Blick und ermöglichen neue bzw. andere Perspektiven.
Beim Gang zum Bücherregal musste ich allerdings feststellen, dass die Bandbreite der AutorInnenenschaft meiner Bücher nur wenig Vielfältigkeit aufzeigte. Beispielsweise findet sich darin kaum ein Buch einer Schwarzen Autorin oder eines Schwarzen Autors. Angestoßen durch die Ereignisse vom 25. Mai und die Black Lives Matter Bewegung möchte ich es von nun an besser wissen und für eine größere Vielfalt in meinem Bücherregal sorgen, ich möchte meinen Blick weiten und dazu lernen.
„Beim Gang zum Bücherregal musste ich allerdings feststellen, dass die Bandbreite der AutorInnenenschaft meiner Bücher nur wenig Vielfältigkeit aufzeigte.“
Wir erinnern uns: einzige Geschichten manifestieren Klischees, Klischees manifestieren Vorurteile, Vorurteile trennen uns oft und verbinden uns nicht. Glücklicherweise ist es sehr, sehr leicht dem Wunsch nach mehr Vielfalt im Bücherregal nachzukommen. So besorgte ich in meiner Lieblingsbuchhandlung Chimamanda Ngozi Adichies Roman „Die Hälfte der Sonne“. Der Roman spielt in Nigeria – ein Land der ethnischen und religiösen Vielfalt – vor und nach dem nigerianischen Bürgerkrieg (1967 – 1970) und wird aus der Sicht von drei Hauptfiguren erzählt. Zum einem ist da Ugwu, ein aufgeweckter Dorfjunge, der als Haushaltshilfe zum sozialistisch geprägten Professor Odenigbo in die Universitätsstadt Nsukka kommt. Dann ist da Olanna, die aus privilegiertem und zum Teil korrupten Hause stammt, eine ungleiche Zwillingsschwester hat, zu Odenigbo zieht und selbst als Professorin an der Universität tätig ist. Und dann gibt es noch Richard, ein britischer Journalist, der nach Nigeria kommt, um Inspiration für sein erstes Buchprojekt zu finden, sich in Olannas Zwillingsschwester verliebt und beschließt in Nigeria zu bleiben. Dreh- und Angelpunkt im ersten Teil des Romans ist das Wohnzimmer von Odenigbo in dem sich regelmäßig die Belegschaft der Universität zum intellektuellen Austausch trifft und über die Unabhängigkeit des Südostens Nigerias sinniert.
Eine Sonnenhälfte war das Symbol auf der Flagge des unabhängigen Staates namens Biafra, der von 1967 – 1970 im Südosten von Nigeria tatsächlich existierte. Begleitet wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen von einem brutalen Bürgerkrieg. In dieser Zeit wandelt sich von heute auf morgen das Leben der Hauptfiguren schlagartig. Die anfängliche revolutionäre Aufbruchsstimmung wandelt sich zu Pragmatismus, wandelt sich zum Kampf ums Überleben. Den gesamten Roman über bleiben die Hauptfiguren eng miteinander verflochten. Die „Hälfte der Sonne“ gewährt einen nachdenklich stimmenden Einblick in die Gesellschaft, Kultur und Historie von Nigeria. Ich für meinen Teil habe mich noch nie zuvor mit Nigeria beschäftigt, noch kann ich mich daran erinnern über den Bürgerkrieg je etwas im Geschichtsunterricht gehört zu haben.
Ich empfehle den Roman allen, die Interesse und Neugier verspüren sich mit der Lebensrealität von Menschen auf einem anderen und oft zu wenig gesehenen Kontinent zu beschäftigen. Noch ein weiterer Gedanke aus Adichies TED Vortrag „Stories matter. Many stories matter. [..] Stories can break the dignity of a people, but stories can also repair that broken dignity.“ (Zu deutsch: „Geschichten sind wichtig. Viele Geschichten sind wichtig. […]. Geschichten können die Würde eines Volkes brechen. Aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen.“)
Und nun zu euch! Wie ist es um die Vielfalt in eurem Bücherregal bestellt?
Welches Buch einer Schwarzen Autorin / eines Schwarzen Autors hat euch am meisten bewegt?
Sprache gegen Rassismus – Wir haben bewusst in diesem Artikel Schwarze Menschen bzw. AutorInnen mit einem Kapitalbuchstaben geschrieben. Mit dieser Schreibweise respektieren wir die Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen, die diesen Ausdruck für sich gewählt haben. Durch das große „S“ wird gezeigt, dass es sich bei dem Wort nicht um eine Beschreibung der Hautfarbe handelt.