LAYERS Autorin Anne Schwerin hat unerwartet Familienzuwachs bekommen
Nein, ich bin nicht unbemerkt schwanger geworden. Meine Mami-Qualitäten sind in letzter Zeit trotzdem öfter doppelt gefragt. Als der Krieg in der Ukraine begonnen hat, wollten wir nicht nur zuschauen, sondern helfen – und haben deshalb ein ganz liebes 21-jähriges Mädchen bei uns aufgenommen. Davon möchte ich euch heute endlich mal erzählen.
„Den Tag, an dem Lina zu uns kam, werden wir wohl nie vergessen.“
Inzwischen lebt „unsere Ukrainerin“ Lina nämlich schon ein halbes Jahr bei uns. Eine Zeit voller Herausforderungen, aber auch voller schöner Momente, in der wir als Familie zusammengewachsen sind. Den Tag, an dem sie zu uns gekommen ist, werden wir wahrscheinlich nie vergessen.
Als der Krieg in der Ukraine im Frühjahr begann, hatten wir gerade Corona. Tagelang lag mein damals zweijähriger Sohn fiebernd auf meinem Bauch. Ich konnte nichts tun, außer für ihn da zu sein. Und nebenbei zu viel Zeit mit meinem Handy zu verbringen. Das zeigte mir damals vor allem zerstörte Städte und viele verzweifelte Menschen. Mütter mit kleinen Kindern auf der Flucht. Wie muss sich das nur anfühlen, fragte ich mich. Und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt mit meinem kranken Kind in der Kälte vor Putins Soldaten fliehen müsste.
Als wir wenige Tage später wieder gesund waren, wurde der Wunsch, irgendetwas zu tun, immer stärker. Gleichzeitig hatte ich Angst: Schaffen wir das überhaupt, jemanden bei uns aufzunehmen? Schließlich waren wir vom normalen Elternalltag schon viel zu oft erschöpft.
„Schaffen wir das überhaupt, jemanden bei uns aufzunehmen? Schließlich waren wir vom normalen Elternalltag schon viel zu oft erschöpft.“
Dann sah ich auf Instagram einen Aufruf, dass Familien gesucht werden, die nur vier Tage bis zwei Wochen jemanden aufnehmen könnten. Ich berichtete meinem Freund Paul davon und wir waren uns schnell einig: Das kriegen wir hin.
Statt uns bei irgendwelchen Online-Portalen zu registrieren, packten wir unseren kleinen Jungen ins Auto und fuhren direkt zum Flüchtlingslager in einem Industriegebiet von Leipzig. Dort stellten wir uns bei zwei Hilfsorganisationen vor.
Wenige Tage später, wir waren gerade am Cospudener See spazieren, kam schließlich der entscheidende Anruf. Eine junge Studentin, die ganz allein geflüchtet und verängstigt war, braucht unsere Hilfe, berichtete die Mitarbeiterin am Telefon. Wir kehrten sofort um und machten uns auf den Weg.
„Lina wollte sofort mit.“
Während Paul im Auto blieb, folgte ich der Frau von der Hilfsorganisation mit meinem Kleinen auf dem Arm zu Linas Zimmer. Unsere erste Gelegenheit, ein modernes, deutsches Flüchtlingslager mal von innen zu sehen. Ein trostloser Ort mitten im Nirgendwo. Kein Baum, kein Strauch. Gebäude aus Plastik und Metall. Immerhin ein Spielplatz für die Kinder. Aber keine Privatsphäre. Nichts, das irgendwie auch nur ein wenig Geborgenheit und Wärme vermittelt hätte. Es war sehr bedrückend. Lina wollte sofort mit.
Zuhause ist unser Kleiner vom Kinderzimmer zurück ins Elternbett gezogen, um Platz für Lina zu schaffen. Dinos, Autos und Kuscheltiere bevölkern seitdem Wohnzimmer und Küche.
Die ersten Wochen mit Lina waren geprägt von vielen Sorgen um ihre Familie und dem Kampf mit der deutschen Bürokratie, der bis heute nicht aufgehört hat. Ganze zehn Stunden stand ich gemeinsam mit Lina, vielen anderen Müttern, kleinen Kindern und Senioren in einer endlosen Schlange am Neuen Rathaus an, um sie als Flüchtling zu registrieren.
Linas Familie ist zum allergrößten Teil in der Ukraine geblieben. Bei ihren Eltern und Großeltern gibt es fast täglich Bombenalarm. Wir haben angeboten, ihre Verwandten bei meiner Familie in der Altmark unterzubringen. Doch sie möchten Tiere, Haus und Garten nicht verlassen.
Aller Sorge zum Trotze hat sich inzwischen so etwas wie Alltag eingestellt. Wir sind super stolz auf Lina, die trotz der schwierigen Situation ihr Studium in der Ukraine aus der Ferne erfolgreich abgeschlossen hat. Jetzt besucht sie einen Integrationskurs in Leipzig und unterstützt mich bei vielen Aufgaben, die im Alltag eben so anfallen.
Abends kocht sie oft köstliches ukrainisches Essen für uns und tobt mit unserem Sohn durch die Wohnung. Für ihn ist Lina inzwischen wie eine große Schwester. An die Zeit, bevor sie bei uns war, kann er sich kaum erinnern.
„Dürfen wir glücklich sein, während andernorts so viele Menschen leiden und sterben?“
Und auch wir haben Lina total ins Herz geschlossen. Ich wollte immer schon gern ein Pflegekind aufnehmen und nun habe ich eine große Tochter. Das bedeutet: viel helfen, viel Gedanken machen, aber auch viele tolle Gespräche und ganz viel gemeinsam lachen. Ja, manchmal lachen wir sie einfach weg, die ganzen Widrigkeiten des Lebens. Die Sorgen, die Angst, die Unsicherheit und den verdammten Herzschmerz, der mit Anfang 20 genau wie mit Ende 30 zum Leben gehört. Gleichzeitig steht immer die Frage im Raum: Dürfen wir das überhaupt? Dürfen wir glücklich sein, während andernorts so viele Menschen leiden und sterben? Linas Angehörige, NachbarInnen und KlassenkameradInnen. Ich habe keine Antwort darauf. Keine Ahnung, wie ich damit richtig umgehen soll.
Doch in einer Sache bin ich mir sicher. Ich möchte, dass Linas Leben bei uns so normal wie möglich ist. Dass sie leben kann. Dass sie immer wieder Kraft sammeln kann, um durchzuhalten und weiterzumachen. Um vielleicht ohne Trauma aus dieser Zeit zu gehen und ihr Leben eines Tages frei zu gestalten. Deshalb versuchen wir der schrecklichen Erfahrung des Krieges möglichst viele schöne Erlebnisse entgegenzusetzen. Unser Highlight in diesem Sommer: Wir sind mit Lina in die Alpen gefahren und haben dort gemeinsam unsere Lieblingsorte entdeckt. Linas erster Urlaub im Ausland! Und der Schönste, wie sie uns berichtet hat.
Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Der Herbst beginnt. Und ich muss oft schon an Weihnachten denken. Ich wünsche Lina von Herzen, dass sie bald wieder bei ihrer Familie sein kann. Leider scheint gerade alles andere wahrscheinlicher, als dass der Krieg schnell zu Ende ist.
Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt, heißt es im Talmud. Das klingt tröstlich. Andererseits: Da draußen sind so viele Menschen, die eure Hilfe brauchen. Und manchmal – wie in unserem Fall – kostet es gar nicht so viel Kraft, etwas zu tun, das wirklich einen Unterschied macht.