Kennt ihr diese ganz besonderen Bücher, die man sofort nochmal lesen möchte, nachdem man die Buchdeckel zusammenschlägt? „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ ist genau solch ein Roman. Nicht ohne Grund habe ich das fast 1000 Seiten starke Buch quer durch Italien (und jeweils 700 Stufen runter und wieder hoch zum vielleicht schönsten Strand der Nation) getragen, denn ich konnte ihn nicht aus den Händen legen. Die Autorin Honorée Fanonne Jeffers schafft es, Lesegenuss mit einer Lektion in Sachen Geschichte zu verknüpfen und regt immer wieder dazu an, innezuhalten und die Welt neu zu betrachten.
Darum geht’s in „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois”
Ailey Pearl Garfield wächst in einer Familie mit viel Geschichte auf, jedoch muss man zuhören, um zu verstehen. Im Roman „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ folgen wir dem jungen Mädchen,
das eine vorlaute und intelligente Jugendliche wird, ihren Platz in der Welt sucht und zu guter Letzt nachfragt, zuhört und versteht.
„Man muss zuhören, um zu verstehen.“
Jeden Sommer fährt Ailey gemeinsam mit ihren zwei Schwestern und ihrer Mutter von ihrer Heimat im Norden der USA in den Süden nach Chicasetta. Hier im ländlichen Georgia ist ihre Mutter aufgewachsen und auch, wenn sie und ihre Familie dort nach wie vor von Rassismus
betroffen sind, ist es eben auch ihre Heimat und die Geschichte der Familie mit dem Ort verwoben. Denn Aileys Großmutter lebt in dem Haus, welches früher dem Baumwollplantagenbesitzer gehört hat, der Teile von Aileys Familie versklavt hat.
Als Ailey sich, angestoßen durch ihren Onkel Root, mit der Vergangenheit des Orts und ihrer Familie auseinandersetzt, begegnet sie nicht nur großen Denkern wie W.E.B. Du Bois, sondern versteht sich als Schwarze Frau und was es bedeutet, in einem so widersprüchlichen Land wie den USA zu leben.
Ein Debütroman, der nachhaltig beeindruckt
„Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ erinnern mich dabei an Yaa Gyasis brillanten Roman
„Heimkehren“, in dem sie die Geschichten zweier Familien geschickt vom 18. Jahrhundert und den Schrecken der Sklaverei, bis hin zur USA der Gegenwart webt. In Zwischenkapiteln erzählt Jeffers die Ereignisse von über 400 Jahren und webt so ebenfalls einen Teppich der Erinnerung, der von den First Nations in Amerika, über die unmenschliche Arbeit auf den Baumwollplantagen bis hin zur Gegenwart reicht.
Was mich bei „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ besonders fasziniert hat, ist wie divers und widersprüchlich die Charaktere im Roman sind. Immer wieder werden durch die ProtagonistInnen
zu der jeweiligen Zeit aktuelle Diskurse aufgegriffen, erklärt und eingeordnet, ohne dass es den Lesefluss im Geringsten stört oder beeinträchtigt. Jeffers erteilt den Lesenden eine wichtige Lektion in Sachen Vergangenheit und Gegenwart, welche man zunächst gar nicht bewusst wahrnimmt. Erst, wenn man über die Lektüre weiter nachdenkt, ohne die Seiten in der Hand zu halten, merkt man, was sie da Positives in einem ausgelöst hat. Eine wahre Erzählkunst.
„Die Charaktere sind divers und widersprüchlich.“
Dabei musste ich mir immer wieder vor Augen halten, dass dies Jeffers Debütroman ist. Wir dürfen also gespannt sein, was uns in den kommenden Jahren noch erwarten wird. Ebenso möchte ich ein Lob an die ÜbersetzerInnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder aussprechen. Der Roman hat sprachlich viele Fallstricke und die richtigen Worte zu finden, ohne Rassismen zu reproduzieren und
gleichzeitig aber die Bedeutung des Geschriebenen zu verändern, ist eine wahre Kunst.
Insbesondere in der Nachbemerkung der ÜbersetzerInnen wird deutlich, wie schwer dieser Spagat ist. Neben schmerzhaften Wörtern, die reproduziert werden, gibt es eben auch die Feinheiten des US-Amerikanischen Englischs, welches durch das African American Vernacular English ergänzt wird. Um die Bedeutung mancher Sätze, und dem was zwischen den Zeilen steht, nicht zu verändern, wurden manche Sätze im Original belassen und verleihen so dem Roman eine ganz eigene Sprache und Reiz. Alles, was für die LeserInnen dann noch unverständlich bleibt, ist im hervorragenden Glossar erklärt.
Ich empfehle die Nachbemerkung noch vor dem eigentlich Roman zu lesen und so einiges besser verstehen zu können. Nur bei einer Sache bin ich mit den ÜbersetzerInnen nicht d’accord: „colored“ ist in der deutschen Übersetzung ein problematischer Begriff und hätte nach meinem Empfinden auch im Englischen stehen bleiben können.
An dieser Stelle merkt man, wie individuell und kontextabhängig Sprache ist. Allein darüber ließe sich wahrscheinlich hervorragend diskutieren, wenn der Roman nicht noch so viel mehr Gesprächsstoff beinhalten würde.
Fazit: Die Gründungsgeschichte neu erzählt
Mit „Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois“ erzählt Honorée Fanonne Jeffers auf beeindruckende Art und Weise die Gründungsgeschichte der USA neu. Sie gibt dabei all denen einen Stimme, die lange keine hatten und rückt die bisherige Erzählweise in eine neue Perspektive. Ich möchte den Roman all jenen ans Herz legen, die eine emanzipatorische Geschichte schätzen, mehr lernen wollen und auch all denjenigen, die das Gefühl haben, schon genug zu wissen – man kann nie genug zu hören!