Ich werde in diesem Jahr 30 und damit werde ich zwangläufig und oft auch ungefragt mit der Thematik Kinderwunsch konfrontiert. Es scheint in einigen Teilen der Gesellschaft noch nicht angekommen zu sein, dass der eigene Kinderwunsch aus verschiedensten Gründen kein Smalltalk-Thema ist. Und doch sitze ich hier und schreibe nicht nur in dieser Kolumne über das Kinderkriegen, sondern rezensiere auch ein Buch, welches sich inhaltlich um Mutterschaft, die eigene Tochter und Beziehungen dreht. Ich sage ja, das Thema verfolgt mich aktuell.
Wir alle sind aus Splittern gemacht
In ihrem autobiografischen Buch „Splitter“ behandelt die Autorin Leslie Jamison die ersten Jahre rund um die Geburt ihrer Tochter. In dieser Zeit lässt sie sich nicht nur vom Vater des Kindes scheiden, sondern dank des Corona-Virus steht die Welt kurzzeitig still.
„Über Gedankensplitter hangelt sich Leslie Jamison durch diese Zeit der Ausnahmesituationen, als frisch gebackene Mutter und der Pandemie.“
Dabei dreht sich das Private nach außen und setzt das vielfältige Bild einer Frau zusammen, die sich manchmal nur auf ihr Kind reduziert fühlt und natürlich noch so viel mehr ist.
Obwohl die einzelnen Splitter aus ihrer Vergangenheit so kurz sind, die längsten gehen vielleicht über zwei Seiten, haben mich einige von ihnen bis ins Mark getroffen.
„Auf der Rückfahrt (…) redeten die Freundin, mit der ich unterwegs war, und ich darüber, wie wir beide mit Mitte Zwanzig die Intensität des Lebens fetischisiert hatten. Intensität bedeutete für uns damals leidenschaftliche Affären und legendäre Roadtrips, Red Bull im Morgengrauen auf McDonald’s Parkplätzen, während mein Freund auf dem staubigen Armaturenbrett eine Furz-Strichliste führte. In meinen Dreißigern bedeutete Intensität etwas anderes – einen Weg zu finden, mein Seminar zu unterrichten, wenn Soraya krank war und meine Tochter mich mit Haut und Haar beanspruchte; einen Weg zu finden, die Klingel der Paartherapie-Praxis zu drücken, Woche für Woche, obwohl mir das schrille Bimmeln pawlowschen Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Meine Freundin und ich waren uns einig, dass die Intensität des Lebens in unseren Zwanzigern filmreifer gewesen war, aber die Intensität des Lebens in den Dreißigern war viel komplexer, war viel tiefgründiger, viel … intensiver. Wir nickten nachdrücklich, als wollten wir uns selbst überzeugen.“
(Splitter, Seite 175)
Vielleicht stört mich persönlich gar nicht so sehr die Frage nach dem Kinderwunsch, sondern dass die Frage mich immer wieder damit konfrontiert, dass ich schlicht und ergreifend keine Antwort darauf weiß. Leslie Jamison ist es mit ihrem Buch gelungen, aufzuzeigen, dass wir viele Persönlichkeiten sind.
„Kein Mensch ist nur Mutter, Freundin, Partnerin, Geliebte oder Kollegin. Wir sind viele und werden immer wieder auf unterschiedliche Rollen zurückgeworfen.“
Ist das die Quarterlife-Crisis?
Ich stehe an der Stelle zwischen dem Ende meiner 20er und dem Beginn meiner 30er. Und ich weiß, age is just a number, aber es beschäftigt mich natürlich trotzdem und ich glaube, es ging oder geht den meisten anderen auch so. Dafür gibt es mittlerweile sogar mit „Quarterlife-Crisis“ einen Begriff. Auch wenn ich nicht den Eindruck habe, in einer existenziellen Krise zu stecken, stelle ich mir ähnliche Fragen wie Leslie Jamison. Was wäre, wenn ich eine andere Abzweigung genommen hätte? Wenn ich mich damals dafür und nicht dafür entschieden hätte? Das sind Fragen, die uns keiner jemals beantworten werden kann, aber als Mensch, der aus Fragmenten besteht, sind es zwangsläufige Fragen, die man sich stellt.
„Wenn man 20 ist, scheint einem die Welt offen zu stehen, mit 30 stellt man vielleicht jedoch fest, es wird Dinge geben, die man nicht sehen oder erreichen wird.“
Dies gilt es zu akzeptieren und gleichzeitig das Leben als Geschenk anzunehmen, welches immer wieder neue Überraschungen bereithält, die sich sowieso nicht im Voraus planen lassen.
Dies zeigt Leslie Jamison so wunderbar in ihrem Buch „Splitter“. Auch in Ausnahmesituationen lässt sich die Freude und das Glück wiederfinden, sei es durch Museumsbesuche, die Fürsorglichkeit der eigenen Tochter oder Freund*innen, die ganz pragmatisch mit dem Akkubohrer um die Ecke kommen, und gemeinsam die neue Wohnung einzurichten.
Eine Schlussüberlegung
Mit „Splitter“ glückt es der Autorin immer wieder neue Denkanstöße zu geben und Alltagssituationen mit Bedeutung aufzuladen. Als die Autorin sich zum Ende des Buches als Alleinerziehende sehr allein fühlt, stellt sie irgendwann fest, dass ja auch der Vater des Kindes Alleinerziehender ist. Ein Perspektivwechsel, der so simpel, wie auch schwer herbeizuführen ist und doch das Alleinsein vertreiben kann. Mehr noch als bei vielen anderen Büchern würde es mich interessieren, wie es LeserInnen in ganz anderen Lebenssituationen aufnehmen. Ich bin sicher, eine schwangere Person, ein Elternteil oder ein alter Mensch, würden das Buch ganz anders interpretieren und lesen. Ja, jedes Buch liest sich je nach Lebenssituation anders, aber ich könnte mir vorstellen, dass es bei „Splitter“ ganz besonders so ist.
Denn worauf ich noch gar nicht eingegangen bin, ist die Kunst, mit der Leslie Jamison versucht ihr Leben einzuordnen und in Bezug zu anderen Menschen zu setzen, die Rolle ihres abwesenden und gleichzeitig auch fürsorglichen Vaters und die tiefe Vertrautheit zu ihrer eigenen Mutter. Und so freue ich mich darauf, das Buch in vielleicht 5 oder 10 Jahren wieder in die Hand zu nehmen, diese Kolumne zu lesen, mich auf neue Gedanken zu „Splitter“ einzulassen und zu schauen, was mich jetzt wohl am meisten anspricht.