Leben auf dem Land?
Ein gestresster Städter zieht aufs Land und findet: zu wenig Bars, Busse, Menschen. Oder: einen hippen Coworking-Platz, endlich Ruhe im Grünen. Eine Geschichte über Dörfer, die kämpfen – gegen Leerstände, Überalterung – aber vor allem gegen Klischees.
„Abwanderung, Leerstand, Verlust der Infrastruktur, Verlust des Kulturlebens…“ Wie die Zutaten eines Kochrezepts, zählt Burkhardt Kolbmüller die Folgen auf. „Ich hab den Niedergang der Region miterlebt“, erzählt er. Seit 1990 lebt Kolbmüller in Bechstedt in Thüringen, einer Gemeinde mit etwa 170 Einwohnern. Vor der Wende war die Region Schwarzatal ein beliebtes Touristenziel, dann kamen immer weniger Menschen.
Doch wer jetzt eine Geschichte des Scheiterns erwartet, irrt sich. Denn: Heute sieht es anders aus – Junge Dresdener suchen ein Grundstück zum Gemüse anbauen, Leipziger Studenten bleiben für ein paar Monate im Dorf und in einem renovierten Schloss diskutieren Bewohner über Demokratie. „Es passiert gerade sehr viel, ich befürchte schon fast, dass ein Immobilienhype ausbricht“, sagt Kolbmüller und schiebt hinterher: Ganz so ist es nicht – „Wir haben immer noch mit Leerstand zu kämpfen, manche Gebäude verfallen.“ Trotzdem zeigt das Beispiel, dass ländliche Regionen Zukunft haben. Denn es gibt sie noch immer, die Sehnsucht nach einer Alternative zum Leben in der Stadt.
Jede zweite Gemeinde ist von Abwanderung betroffen
Über die Hälfte der Deutschen lebt bereits auf dem Land. Aber was heißt das eigentlich? Laut dem Statistischen Bundesamt leben 15 Prozent in Gemeinden mit unter 5000 Einwohnern. Der Großteil lebt in kleinen und mittelgroßen Städten. Betrachtet man die Lage der ländlichen Regionen, darf also nicht verallgemeinert werden: „Das eine Land gibt es nicht“, erklärt Marc Redepenning, Professor für Geographie an der Universität Bamberg. Er forscht zur Entwicklung des ländlichen Raums.
„Die Wirklichkeit entspricht nicht immer der Vorstellung vom guten Leben.“
Gemeinden, die nahe an einer Stadt liegen, profitieren meist von Abwanderungen aus den Städten, erklärt Redepenning. Anders sei die Lage bei zentrumsfernen Gemeinden, die außerhalb der Pendlerdistanz zu einer großen Stadt liegen. „Dort ist die Situation umgekehrt, jede zweite Gemeinde ist von Abwanderung betroffen.“ Das kann in eine Abwärtsspirale führen: die Infrastruktur zerfällt immer mehr, Busse fahren seltener, manchmal schließen Schulen.
Nicht gerade das, was den Menschen durch die bildstarken Landmagazine vermittelt wird. Dort wird häufig nur die eine, “schöne” Seite des Landlebens gezeigt. „Die Wirklichkeit entspricht nicht immer der Vorstellung vom guten Leben“, sagt Werner Nell, Sprecher des Forschungsprojekts “Experimentierfeld Dorf” an der Universität Halle-Wittenberg. Vor allem durch den demografischen Wandel schrumpft in vielen ländlichen Gebieten die Bevölkerung. Besonders ostdeutsche Regionen sind betroffen, aber auch in anderen Teilen Deutschlands stehen abgelegene und strukturschwache Regionen vor immer größeren Herausforderungen.
Leerstände als Chance sehen
Diese sind auch im Schwarzatal spürbar. Mit etwa 30 Prozent Bevölkerungsrückgang bis 2035 hat die Region eine der schlechtesten Demografieprognosen in ganz Thüringen. „Es ist wichtig, dass Leute mit neuen Ideen ins Tal kommen“, erklärt Kolbmüller. Gleichzeitig setzen sich die Bewohner bereits selbst dafür ein, die Region zukunftstauglich zu machen. 2011 wurde die Zukunftswerkstatt gegründet, um regelmäßig neue Ideen zu sammeln und umzusetzen. Kolbmüller selbst hat zum Beispiel einen Bauernhof restauriert. In dem KulturNaturHof organisieren er und seine Frau, die aus Hamburg in die Thüringer Provinz wechselte, Konzerte, Lesungen, Seminare. In einem alten Heimatmuseum können heute Menschen übernachten – an Ideen mangelt es nicht. Dennoch gibt es immer noch eine Menge Leerstände. Zusammen mit der Internationalen Bauausstellung Thüringen sollen diese wieder aktiviert werden. Geschäftsführerin Martina Doehler-Behzadi erklärt: „Es geht vor allem auch darum, einfach mal etwas auszuprobieren und zum Beispiel kleinere Standards zuzulassen. Unvollkommene Projekte sind möglich .“
Den Schritt aufs Land kleiner machen
In der Praxis kann das so aussehen: Kann ein Gebäude nur mit großem Aufwand wintertauglich gemacht werden? Dann wird es eben nur im Sommer genutzt. Landleben auf Zeit sozusagen. „Wir wollen den Schritt auf Land zu ziehen, kleiner machen“, erklärt Kolbmüller das Konzept. Wer will schon direkt ein ganzes Haus auf dem Land kaufen bevor man die Nachbarn kennt? Menschen wagen eher den Schritt aufs Land, wenn sie ihn auch ohne Probleme wieder zurückgehen können. Schon Anfang des 20 Jahrhunderts ist der Adel im Sommer aus den Städten geflüchtet, um in den prächtigen Hotelbauten des Schwarzatals die „Sommerfrische“ zu verbringen. Statt Adel und Großbürgertum sollen jetzt vor allem Freiberufler dort wohnen – Menschen, die ortsunabhängig arbeiten können oder für ein Projekt mal den Ort wechseln wollen. Und wer weiß: Vielleicht bleiben sie am Ende doch länger. Oder kommen zumindest wieder mal zurück.
Werden digitale Nomaden die Dorfbewohner der Zukunft sein?
Freiberuflich, ortsunabhängig: Digitales Arbeiten spielt in der Diskussion über die Zukunft des Landlebens eine zentrale Rolle. Szenen wie diese konnten lange nur in Großstädten beobachtet werden: Elektronische Musik kommt aus den Lautsprechern. In einem Café blicken Menschen in ihren Laptop. Ein leises Klackern vom Tippen auf der Tastatur. Es wird Kaffee aus großen Tassen geschlürft.
Inzwischen breitet sich die Coworking-Kultur auch in ländlichen Gebieten aus: Im Coconat in Brandenburg treffen sich Menschen regelmäßig zum gemeinsamen arbeiten in dem umgebauten Gutshof. „Wenn junge Leute mit städtischen Kontext Coworking-Spaces erschaffen, kann das allen zugute kommen“, erklärt Philipp Hentschel, digitaler Projektmanager und Mitgründer des Coconats. „Projekte wie Coworking Spaces dürfen nicht als Heilsbringer präsentiert werden“, sagt er. Es sei immer noch ein Trendbegriff, nicht alle Regionen können damit etwas anfangen.
Gemeinsam mit seinem Team stellt er auf der Website Kreativorte Brandenbug Menschen vor, die neue Ideen auf dem Land ausprobieren. Alle zwei Wochen wird ein neuer Ort auf der Karte ergänzt. Coworking oder ökologisches Wohnen im alten Industriegebäude: Auf dem Land gibt es den Platz für Projekte, der in den Städten oft fehlt. Das Bild von den rückkehrenden Städtern, die mit ihren Ideen das Landleben retten, ist aber falsch. „In vielen Orten setzen engagierte Menschen seit Jahren Himmel und Hölle in Bewegung, um attraktive Orte zu schaffen“, erklärt Hentschel. Nur fehlt eben oft die Öffentlichkeit. Sichtbarkeit der aktiven Vereine und Initiativen über die lokalen Ortsgrenzen hinweg.
Wenn Ideen und Plätze zusammenfinden: It’s a match
So vielfältig die Projekte auch sind: Für die Zukunft der Dörfer spielt vor allem das digitale Arbeiten eine wichtige Rolle. Besonders wenn man zentrumsferne Regionen betrachtet. „Man kann nur darüber nachdenken sich im ländlichen Raum anzusiedeln, wenn man auch die Arbeit mitnehmen kann und nicht auf die Pendlerei angewiesen ist“, sagt Hentschel. Dazu müssten sich Unternehmen der Möglichkeit öffnen, ortsunabhängig arbeiten zu können.
Über die Plattform Zukunftsorte will Hentschel mit seinem Team solche Projekte bündeln. Nach und nach soll ein Wissensportal entstehen. Wer mit dem Gedanken spielt aufs Land zu ziehen, kann hier im ersten Schritt Inspiration finden. Im zweiten Schritt kann man Hilfe bei der konkreten Umsetzung bekommen. Wie finde ich zum Beispiel ein passendes Grundstück? Hentschel will Interessenten und passende Gebäude für ihr Projekt zusammenbringen. Wenn es dann heißt: „It’s a match!“ kann die Planung weitergehen.
Stadt gegen Land?
Coworking auf dem Land, Urban Gardening in der Stadt: Wie groß ist die Kluft zwischen Stadt und Land überhaupt noch? Komparatist und Sozialwissenschaftler Nell sagt: „Die Gegenüberstellung von Stadt und Land ist unbrauchbar.“ Denn: Es gibt immer mehr Verschränkungen zwischen den Lebensstilen und -verhältnissen. Auch in Städten finden sich dörfliche Strukturen wieder, zum Beispiel in Form der Kiezeinteilung in Berlin. Zentrumsnahe Dörfer orientieren sich mit ihrem Lebensstil dagegen zunehmend an Städten. Denken wir über die Zukunft des Landlebens nach, sind solche gedanklichen Barrieren zwischen Stadt und Land nur hinderlich. „Nur gemeinsam können wir das Beste aus Stadt und Land verbinden“, stimmt Hentschel zu, „Wir müssen aufhören mit der Großstadtbrille aufs Land zu blicken.“
Dorf heißt auch Konfrontation
Trotzdem scheuen viele Menschen den Schritt aufs Land: Zu groß ist die Angst davor, nicht auf Gleichgesinnte zu treffen, zu groß die Befürchtung vor sozialer Kontrolle. Sehen wir das Landleben zu oft schwarz-weiß? Die Vorstellung, das Land sei konservativ und die Stadt progressiv, könne nicht verallgemeinert werden, erklärt Redepenning. Mit Neuzuzügen kommen auch Innovationen und neue Ideen in dieDörfer.
In der Stadt bestehe ebenfalls die Gefahr, dass man in seiner eigenen Blase lebt: Auch dort gebe es konservative und sich abschottende Lebensstile, die man häufig nur weniger wahrnimmt.
Das Land zwingt zudem eher zur Konfrontation. „Klar gibt’s hier auch etliche AFD-Wähler und die sind dann halt deine Nachbarn“, erklärt Kolbmüller. Anders als in der Stadt könne man ihnen nicht so leicht aus dem Weg gehen. Man lernt damit umzugehen.
Die oft zitierte „soziale Kontrolle“ kann ebenfalls von mehreren Seiten betrachtet werden. Natürlich kann man an den Menschen weniger vorbeisehen. Darin stecken aber auch Kümmerstrukturen, erklärt Redepenning „Gerade diese Fürsorgefunktion versuchen wir auch wieder in Städte zu bringen.“
Hängt die Zukunft der Dörfer von den Bewohnern ab?
Die Gleichwertigkeit von Stadt und Land ist schon im Grundgesetzgeregelt. Denn es ist gefährlich, wenn sich Regionen abgehängt fühlen. Dennoch zeigt sich: Die Zukunft hängt vor allem von den Bewohnern ab. Die Studie „Land mit Zukunft“ 2018 des Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat festgestellt: „Mit Geld allein lässt sich eine Region nicht stabilisieren.“ Der Staat müsse die Menschen natürlich unterstützen, nicht immer sind die Rahmenbedingungen ausreichend geschaffen. Doch nur mit Menschen, die etwas anpacken, können zukunftsfähige Orte geschaffen werden.
“Das Dorf ist keine Zwangsgemeinschaft”
Im kleinen Bechstedt schallen Gitarrenklänge, dann setzen die Trompeten ein: Balkanmusik hallt durch die Scheune. Kühe gibt es dort schon lange nicht mehr. Heu und Futtertröge wurden gegen eine Bühne getauscht. Statt Tieren füllen tanzende Gäste den Raum. Kolbmüller erinnert sich noch gut an den Abend mit der Leipziger Band in der Kulturscheune. Ja – so kann ein gutes Leben auf dem Land in Zukunft aussehen. Innovative Projekte können für Menschen, die noch zweifeln, bei ihrer Entscheidung aufs Land zu ziehen ausschlaggebend sein. Mehr junge Menschen kommen aufs Land, die Infrastruktur wird mehr genutzt – eine Aufwärtsspirale. Letztlich sind wir in einer glücklichen Lage, dass wir die Wahlmöglichkeiten haben. „Wenn ich mich frei dazu entscheide auf dem Dorf zu leben, ist es nicht mehr negativ besetzt“, sagt Kolbmüller. „Wir müssen uns von der Vorstellung des Dorfes als Zwangsgemeinschaft trennen.“
Stadt und Land strikt voneinander zu trennen ist nicht nur hinderlich, es wird auch immer schwieriger: scheinbar Gegensätzliches verschwimmt, statt dem Ort rückt der Lebensstil zunehmends in den Mittelpunkt. Vielleicht müssen wir uns also gar nicht entscheiden zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Dazwischen liegt eine große Vielfalt an Möglichkeiten, wie wir in Zukunft leben können. Und die geht im Schwarzweißdenken verloren.
Dieser Beitrag von Autorin Marie Fetzer erschien auch im transform Magazin. Unser Interview mit transform Herausgeber Richard lest ihr hier. Das sehr lesens- und anschauenswerte Magazin könnt ihr hier bestellen.