Ich gönn mir – Über Versuchungen des Kapitalismus und Achtsamkeit

Tasnim Rödder vom Tranform Magazin über das Dilemma der Belohnungen

Uns etwas Gutes zu tun, ist oft gar nicht so einfach. Manchmal fühlen wir uns danach schlechter als zuvor. Wir sind keine Unmenschen, wenn wir uns nach einem harten Tag neue Turnschuhe online bestellen. Aber sollten trotzdem mal darüber nachdenken.

Heute gönn‘ ich mir was. Ich bin um sieben Uhr aufgestanden. Ich habe meine Fitnessübungen gemacht, meinen Haferbrei mit Obst gegessen und Zeitung gelesen. Sogar das Wirtschaftsressort. Ich bin zur Arbeit gegangen, habe meine drei News für das Onlinemagazin geschrieben, habe ein fröhliches Gesicht bewahrt und bin wieder nach Hause gefahren. So wie ich und die Gesellschaft es von mir erwarten. Das ist doch schon Grund genug für eine kleine Belohnung – oder?

transform

Ich wage das Experiment. Nun sitze ich ratlos auf meinem Bett. Was könnte ich mir gönnen? Eine Serie? Steh‘ ich nicht drauf. Buch lesen? Bin ich in so einer aufgeregten Stadt wie Berlin meistens zu ungeduldig für. Und ist auch gerade irgendwie lame. Neues Outfit kaufen? Online Möbel shoppen? Ins Wellness-Schwimmbad gehen? Kostet alles Geld. Mein Kopf kommt ins Schleudern. Muss ich mich wirklich den kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft unterwerfen, nur weil ich mir mal etwas Gutes tun möchte?

Sich etwas zu gönnen kann ziemlich schwierig sein. Was ist das eigentlich, dieses „Gönnen“? Google spuckt mir Synonyme wie „sich leisten, sich herausnehmen, sich gewähren“ oder „absahnen, abgreifen“ aus. Das klingt ja erstmal, gelinde gesagt, weniger positiv. Es scheint eher so, als weiche der*die Gönnerhafte von der Norm ab und bräche aus dem Kreis der Leistungsgesellschaft aus, um sich etwas „herauszunehmen“. Nur wer leistet, darf sich etwas leisten. Mh, geschuftet habe ich ja heute auf der Arbeit – Voraussetzungen sind erfüllt. Also weiter im Text.

„Muss ich mich wirklich den kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft unterwerfen, nur weil ich mir mal etwas Gutes tun möchte?“

Ich suche nach einem anderen Wort als gönnen, das es mir eher erlauben kann, mir etwas Gutes zu tun. Wie wäre es mit dem Nomen „Achtsamkeit“? Ich möchte achtsam mit mir umgehen. Allerdings wird der Begriff leider schon inflationär missbraucht. An jeder Ecke bieten Kioske Achtsamkeits-Hefte, Reisebüros verkaufen Achtsamkeits-Reisen. Achtsamkeit ist sogar in Form von Tees oder Gummibärchen zu genießen. Die Kapitalisierung der Achtsamkeit a.k.a. Selbstbehutsamkeit hat sie selbst und ihren Sinn völlig dekonstruiert – und die Achtsamkeit als wirksames Mittel ihre Glaubwürdigkeit verloren. Darauf kann ich verzichten.

Besser gefällt mir der Begriff „Selbstfürsorge“. Die Schwarze* lesbische US-Bürgerrechtsaktivistin und Autorin Audre Lorde sagte 1988: „Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.“ Also: Selbstfürsorge ist keine Frage von Selbstgefälligkeit, sondern selbsterhaltend und Teil eines politischen Kampfes.

*(Schreibweise — „Schwarz“ ist groß geschrieben, weil es sich um kein Adjektiv und keine Hautfarbe handelt. Schwarz ist eine politisch gewählte Selbstbezeichnung, in Ablehnung kolonialrassistischer Bezeichnungen. Deshalb wird es groß geschrieben. Lesenswert ist dazu Noah Sows Buch Deutschland Schwarz Weiss (Goldmann 2009).)

Ergo: Wenn ich für mich und die Welt – so wie ich sie mir vorstelle – einstehen möchte, dann muss ich auch für mich sorgen. Ich muss mich um mich und mein Wohlbefinden kümmern und meinen Energiehaushalt regelmäßig aufladen. Denn das tut nicht nur mir, sondern, wie es Audre Lorde** formuliert, auch meinem „politischen Kampf“ gut.

**(Audre Lorde — „Ich bin Schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter.“ So beschrieb Audre Lorde sich selbst. Die US-Autorin gehört zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre.)

Magazin

Nichtsdestotrotz stehe ich weiterhin vor einem Dilemma. Wenn ich doch gegen umweltbelastendes, unbewusstes Konsumieren und die kapitalistischen Strukturen bin – ist es dann nicht paradox, mich diesen zu unterwerfen, wenn ich mir mal etwas gönnen möchte? Ich möchte mit meinen Gefühlslagen niemanden etwas kosten, geschweige denn jemandem wehtun. Wenn ich mir etwas gönnen möchte – warum muss dann derdie Näherin in Bangladesch dafür leiden?

Ähnliche Dilemmata gibt es viele. Auch die feministische Philosophin und Philologin Judith Butler*** hat sich damit beschäftigt. Ihrer Meinung nach ist diese Dilemma-Situation eine Frage der Autonomie und anscheinenden Freiheit. Natürlich könnte man sagen: Wenn du einen freien Willen hast, dann entscheide dich gegen das kapitalistische Denken und gönne dir einfach Zeit, in die Luft zu starren. Oder Zeit, einfach nur rumzuliegen. Oder Zeit, drei Handstände zu machen.

***(Judith Butler — Butler ist eine US-amerikanische Philosophin, Philologin und Queer-Feministin. Ihre sozialwissenschaftlich-philosophischen Arbeiten werden dem Poststrukturalismus zugeordnet. Mit ihrer Schrift „Das Unbehagen der Geschlechter“ stieß sie 1990 die Diskussionen um die Gender Studies an.)

Die Frage ist dann bloß – haben wir diesen freien Willen? Denker*innen wie Michel Foucault oder Butler sehen das mit der Autonomie und Freiheit in unserer Gesellschaft etwas abstrakter. Ihrer Vorstellung nach ist unsere Gesellschaft so durchstrukturiert und durchgetaktet, dass es dem Individuum schwerfällt, auszubrechen. Denn das hat in der Regel Konsequenzen. Fügen wir uns etwa nicht dem Gesetz oder gesellschaftlichen Normen wie der Heterosexualität, werden wir bestraft. Das muss nicht immer heißen, dass wir ins Gefängnis kommen oder Strafen zahlen müssen. Damit können auch Diskriminierungen gemeint sein: Schräge Blicke, dumme Kommentare, leichte Seitenhiebe – die ziemlich schmerzhaft sein können.

„Die meisten von uns haben es nicht anders gelernt: Wenn ich lange gearbeitet habe, gönne ich mir neue Turnschuhe.“

Es ist auch daher nicht leicht, sich innerhalb unserer Gesellschaft gegen die normierten Vorstellungen des Gönnens zu wehren. Die meisten von uns haben es nicht anders gelernt: Wenn ich lange gearbeitet habe, gönne ich mir neue Turnschuhe. War ich beim Sport, gönne ich mir eine extra Portion Eis. Wenn ich eine gute Note bekommen habe, schenke ich mir die neue Tasche. Alles ist mit Konsum verbunden. Ist ja auch irgendwie schräg zu sagen: Heute habe ich viel geleistet, also gönne ich es mir, aus der Reihe zu tanzen. Oder Purzelbäume zu schlagen.

Ich gönn mir Marlene Krause
Illustration: Marlene Krause

Aber bin ich jetzt ein schlechter Mensch, wenn ich mich doch für das Online-Shopping entscheide? Nein, denn ich bin so darauf konditioniert, etwas zu kaufen, dass ich kaum anders kann. Es kostet mich eine Menge Anstrengung und Energie, mich an nicht-konsumorientiertes Gönnen zu gewöhnen. Butler zufolge müssen wir „einer umfassenden sozialen Struktur“ angehören, um zu gestalten, wer wir sind. Erst wenn wir ein Teil der Gesellschaft sind und uns stark fühlen, können wir uns mit anderen identifizieren – oder eben nicht. Das sei der Widerspruch der Autonomie.

„Bin ich jetzt ein schlechter Mensch, wenn ich mich doch für das Online-Shopping entscheide?“

Allerdings sollte das keine Legitimierung dafür sein, für jede Gönnung online zu shoppen. Einen gewissen Ticken Selbstreflexion und Kraft kann ich mir dann doch zumuten. Jedes Mal, wenn ich mich gegen das konsumorientierte Gönnen entscheide, fällt es mir beim nächsten Mal leichter. Ich kann mir das Belohnungs-Shopping sozusagen abkonditionieren – auch, wenn es sehr schwerfällt. Und wenn ich mich dann doch mal für das Einhorn-Pailletten-Shirt vom Designerlabel entscheide, dann genieße ich es umso mehr. Heute soll es aber nicht das Einhorn-Shirt sein. Also versuche ich, auf mich selbst zu hören. Auf mein ganz Inneres – was kann ich mir Gutes tun? Und ich sage euch: es gibt nichts Schwierigeres als das. Also bleibe ich auf meinem Bett liegen, drehe „Roxane“ von The Police auf – und gönne mir.

Dieser Artikel erschien in der vierten transform Ausgabe zum Thema „Kinder“. Die transform Redaktion hat sich in dieser Ausgabe gefragt, ob wir wirklich Kinder brauchen, um glücklich sein zu können und was an dieser Idee vielleicht sogar schon falsch sein könnte. Die Autorin Tasnim Rödder studiert in Berlin und hat ihren Zugang zum Journalismus während ihres FSJ Kultur bei der Jugendpresse Deutschland e.V. entdeckt. Mittlerweile schreibt sie unter anderem für ZEIT Online, taz, NEON, Missy Magazine und bento. 

Unser Interview mit transform Herausgeber Richard lest ihr hier. Das sehr lesens- und anschauenswerte Magazin könnt ihr hier bestellen

In regelmäßigen Abständen veröffentlichen wir Artikel aus dem wunderbar lesens- und anschauenswerten transform Magazin, das von einem Team aus Leipzig, Berlin und Hamburg geschrieben und gestaltet wird. Jede Ausgabe widmet sich einem anderen Thema, das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Im Heft findet ihr ausschließlich kreative, redaktionelle Arbeiten und 0% Werbung.

Schreibe einen Kommentar