Mein Herz ist ein Dorf – Über das Leben auf dem Land

Von der großen Entscheidung, wo wir leben wollen

Letzte Gedanken: Der Mensch ist ein komisches Tier. Als einziges Lebewesen kann er in sehr unterschiedlichen Umständen sein Zuhause finden. Manche leben in Wohnungen, viele in Häusern, einige in Zelten, andere in Fahrzeugen und wieder andere unter freiem Himmel. Wir hausen in Hochhäusern übereinandergestapelt mit vielen anderen und wohnen in Alleinlage auf Höfen mit unendlich viel Land. Ein Heim, das uns glücklich macht, ist für jeden etwas völlig anderes. Die Entscheidung über das eigene Zuhause, ist eine Facette der Antwort auf die große Frage, wer wir eigentlich sind oder gern sein wollen.

Uff! Das muss man kurz wirken lassen. Ich habe beschlossen, meine letzten Gedanken an den Anfang des Artikels zu stellen, damit ihr wisst, worauf ihr euch einlasst.

Dorfkindmomente

Und nun von vorn: Unsere Layers Chefin Franzi bat mich vor Kurzem über das Landleben zu schreiben und zu schildern, warum ich es so viel mehr mag als die Stadt. Ich bin schließlich das Landei der Redaktion. Ich könnte euch jetzt von grünen Wiesen und zwitschernden Vögeln vorschwärmen, aber das wisst ihr ja alles. Also habe ich lange gegrübelt, was es für mich wirklich bedeutet, auf dem Land zu leben und was die Wahl unseres Lebensorts eigentlich über uns sagt. Damit ihr wisst, was ich meine, muss ich ein bisschen von mir erzählen. 

Leben auf dem LandPin It

Alle Fotos von Anne Schwerin.

Ich bin ein geborenes Dorfkind. Aufgewachsen in einem Ort ohne Shopping, Bars oder Zugverbindung. Jeden Tag habe ich mit meinem Opa Schafe gefüttert und musste fast eine Stunde mit dem Bus zur Schule fahren. Klassische Treffpunkte mit Freunden waren die Bushaltestelle oder irgendwelche verlassenen Hütten am See. Ich war genervt.

Schneller als meine Familie „Abitur“ sagen konnte, war ich weg und zog in die Stadt

Erst nach Magdeburg, dann nach Berlin. „Wir dachten, wir haben dich an die Großstadt verloren“, höre ich heute meine Eltern sagen. Aber die Liebe brachte mich zurück. Erst nach Leipzig und dann in einen Ort, der nicht mal Straßennamen hat, nur Nummern – so klein ist er. 100% Dorf. Damit meine ich: kein Bäcker, kein Supermarkt, kein gar nichts. Vorstadt ist für mich kein Landleben. Die Vorstadt ist Landleben mit Backup. Das nur zur Definition.

Der „Downgrade“ war schwer für mich, obwohl ich wusste, was mich erwartet.

Aus der Stadt wieder auf´s Land zu ziehen war überhaupt keine Erleichterung oder Verbesserung für mich.

Es war zuerst einmal eine Vernunftentscheidung. Ich war schwanger und hielt es für sicherer, besser, behüteter usw. mein Kind auf dem Land großzuziehen. Das „hier ist nichts los“, was ich einst gehasst habe, schien mir mit Baby unterm Bauch plötzlich sehr verlockend. Aber ich merkte schnell, dass das Landleben für das Baby gut war, aber nicht für mich. (oder doch?) Die Freunde, die Möglichkeiten (auch, wenn ich sie nicht genutzt habe) fehlten mir. Ich hatte keinen Anschluss, die meisten Nachbarn waren Rentner. Rückblickend würde ich sagen, ich war nach dem Umzug in einer depressiven Episode gefangen.

Es fühlte sich an wie ein Kater, nach einen sehr langen Vergnügungsrausch in der Stadt.

Weil umziehen nicht in Frage kam, musste ich tiefer gehen. Ich sah mir die Gefühle an, die ich hatte: das Bedürfnis nach Vergnügen, Sozialkontakten, Dazugehören, Ablenken. (wichtiges Stichwort!) Die Stadt war für mich immer eine bequeme Ablenkung. Ablenkung von mir selbst. Unschöne Gefühle, die man sehr gut mit Kaffee to go, Kneipen und den Problemen anderer betäuben kann. Aber haltet euch fest: 

Laut Studien liegt das Depressionsrisiko bei Menschen, die auf dem Land leben, um ca. 40 Prozent niedriger liegt als bei Stadtbewohnern.*

Wie kann es also sein, dass ich (zu Beginn) auf dem Land so unglücklich war? Und nun schließe ich den Kreis und wir kommen wieder zu meinen Gedanken vom Anfang des Artikels. Mein Leben in der Stadt war gut und wichtig. Ich war auf der Suche und die Stadt ist perfekt für Menschen, die auf der Suche sind. Sie müssen all die wichtigen Antworten auf all die Fragen finden: Was will ich arbeiten? Will ich diesen Partner? Trenne ich mich lieber? Wie will ich leben? Die Suche nach uns selbst triggert uns im Grunde den ganzen lieben langen Tag.

Diese Suche kann ein ganzes Leben dauern. Denn die Stadt macht es einem verdammt schwer, sich festzulegen.

Wenn wir uns gefunden haben, sind wir bereit anzukommen. Und das Land ist perfekt für Menschen, die angekommen sind. Inzwischen kann ich das sehen und fühlen, bei jedem Besuch in der Stadt. Es ist schön, aber ich habe hier nichts mehr zu suchen. Was ich brauche, habe ich gefunden. Mein Herz ist ein Dorf. Da passen nicht so viele Menschen rein. Ich habe mein komplettes Leben umgekrempelt. Früher habe ich in der Werbung gearbeitet und Menschen dabei geholfen, ihre Produkte zu verkaufen. Heute gehe ich den ganzen Tag durch den Garten und spreche über Heilkräuter und die Natur. Landleben ist sogar mein Job geworden. Das bin ich. Zu diesem Zeitpunkt, in der Summe meiner Entscheidungen.

Es gibt kein richtiges Leben

Aber ich schreibe das hier nicht, um euch zu sagen, dass das Landleben besser ist als andere Lebensentwürfe. Wie überheblich wäre es, wenn ich festlege, was richtig und falsch ist? Keiner führt ein falsches Leben. Wenn ihr in der City am Ende glücklich zurückschaut und sagt – ja das war geil. Dann ist alles gut. Egal, ob das die Wahrheit ist oder nicht. Wer weiß das schon?

Nur so viel von mir: Wir wollen häufig das, was wir gerade nicht haben. Je besser wir uns selbst kennen, desto besser können wir Grenzen ziehen. Aber nicht für jeden ist es bestimmt, sich in Gänze zu kennen. Das ist ok. Denn die Begegnung mit einem selbst und dem Inneren macht Angst. Also begegnen wir in dieser Zeit lieber vielen anderen Menschen in der Stadt. Meine Erfahrung: Wenn ihr euch selbst begegnen wollt, ist die Chance ein bisschen größer auf dem Land. Die absolute Stille macht es euch leichter zuzuhören, wenn Etwas in euch die Antwort flüstert, auf die große Frage: Wer bin ich? 

10 Punkte, an denen du merkst, dass du auf dem Dorf lebst:

  • 80% der Straßen haben keine Mittelstreifen.
  • Wenn ein Krankenwagen vorbeifährt, versammelt sich das gesamte Dorf am Unfallort.
  • Der einzige Lieferdienst ist spezialisiert auf Pizza, Döner, Asiatisch und Indisch.
  • Am Wochenende weckt dich der Rasenmäher des Nachbars.
  • Restaurants besuchst du maximal einmal im Monat und Kaffee to go gibt’s nur in deiner Küche.
  • Du bist immer aus Versehen Mitglied in irgendeinem Verein.
  • Alle Handwerker sind miteinander verwandt.
  • Du lässt den Hausschlüssel über Nacht von außen stecken und es passiert nichts.
  • Mit dem ungeplanten Herausstellen der Mülltonne, versetzt du alle Anwohner in Panik.
  • Du grüßt jeden, der vorbeikommt. Egal, ob du ihn kennst.

*https://www.privatklinik-merbeck.de/blog/macht-das-landleben-wirklich-gluecklich/

Wenn Michelle gerade nicht für uns schreibt, verhilft sie ihren Kunden zu kluger und kreativer Kommunikation. Als Kreative in der Werbung konzipiert sie Kampagnen, schreibt Werbespots und findet die richtigen Worte für einfach alles. Klappt sie den Computer zu, findet ihr Michelle im Garten. Nebenberuflich studiert sie Phytotherapie und gibt schon bald Heilkräuter-Workshops auf einem Bauernhof in der Nähe von Leipzig.

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