Mutter-Kind-Kur NIE WIEDER

„Man muss einfach Bock auf das Programm haben! Und auf die Gemeinschaft mit den anderen Frauen natürlich!“ – Während wir bei lauschigem Sommerwetter in unserem gemütlichen Leipziger Hinterhof sitzen, erkläre ich meinen Freundinnen noch vollmundig, warum ich genau die richtige Kandidatin für eine Mutter-Kind-Kur bin und weshalb die anstehenden drei Wochen auf dem Land garantiert ein Erfolgsprojekt sein werden. „Man kann auch eine Vater-Kind-Kur machen“, rufe ich einem vorbeieilenden Nachbars-Papa noch fröhlich zu.

Wenig später, aber einige Hundert Kilometer entfernt, nehme ich schniefend ein Taschentuch entgegen. „Jetzt fangen Sie sich erstmal wieder!“ beruhigt mich der Klinik-Arzt. Es ist unser erster Tag. Oder besser gesagt, der erste Tag nach unserer ersten Nacht in der Mutter-Kind-Klinik, die bei mir gerade einen mittelschweren Nervenzusammenbruch ausgelöst hat.

Seit der Bewilligung vor einem Jahr hatte ich mich auf diese Reise gefreut. Endlich ausruhen, Kraft tanken, Inspiration sammeln. Und das auch noch auf Krankenkassenkosten. Klingt doch erstmal genial! „Denk dran, eine Kur-Klinik ist kein Kinderhotel“, mahnt mich meine Mutter noch mit besorgtem Blick. Weiß ich doch! Dann schraube ich meine Ansprüche halt mal ein bisschen runter. Kein Problem. Und ganz ehrlich: Wie schlimm kann es denn werden???

Leider sollte schon die Ankunft in unserer Mutter-Kind-Klinik einfach nichts Gutes verheißen.

Ein Mittwoch, Anfang September, irgendwo in Deutschland: Nach sechs Stunden Bahnfahrt stehen wir pünktlich um die Mittagszeit im mit Plastikblumen geschmückten Foyer der Klinik – und müssen erstmal satte 45 Minuten warten, bis die Rezeption überhaupt öffnet. Etwas zu essen bekommen wir danach „natürlich“ nicht mehr. Und da es in unserem kleinen Dörfchen gerade kein Restaurant und kein offenes Geschäft gibt, heißt es bis zum Abendessen erstmal: Hungrig bleiben. Ok.  

Immerhin dürfen wir unser Domizil beziehen. Durch einen dunklen, engen Flur laufen wir zu einem kleinen Zimmer im Erdgeschoss, wo uns Linoleumboden und zerkratzte Sperrholzmöbel aus – optimistisch geschätzt – den 90er Jahren, sowie ein chemischer Geruch begrüßen, der uns in den nächsten drei Wochen begleiten wird. Eine detaillierte Beschreibung unseres traurigen Badezimmers erspare ich euch an dieser Stelle. Immerhin gibt es moderne Technik: Direkt neben dem Kopfkissen meines schmalen Mama-Betts steht der W-LAN-Router. „Kann das gesund sein“, frage ich mich und merke zum ersten, aber leider nicht zum letzten Mal, dass ich mir das alles ganz schön anders vorgestellt habe.

An Ruhe ist in den nächsten Stunden nicht zu denken. Immer mehr Mütter kommen an. Und die Kinder beginnen, auf dem Bolzplatz direkt vor unserem Fenster Fußball zu spielen. Im Sekundentakt wird gegen den Ball getreten. Ich kriege Kopfweh und lege mich hin. Doch auch Privatsphäre gibt es in unserem ebenerdigen Zimmer nicht. Man kann direkt reinsehen. Also Fenster und Vorhänge zu, während draußen die Sonne scheint? Ich frage mich, wie ich das die nächsten drei Wochen aushalten soll.

Nach einer kurzen, schlaflosen Nacht, in der ich gemeinsam mit meinem Kind, das nicht im Doppelstockbett schlafen will, auf der maximal einen Meter breiten Matratze schwitze, heißt es um 7 Uhr zum Frühstück antreten. Schließlich soll der Nachwuchs pünktlich 7.45 Uhr in der Klinik-Kita sein. Eingewöhnungszeit: 15 Minuten – für alle gleichzeitig. Als Ein-Kind-Mama ist das gerade noch schaffbar. Den Müttern mit zwei, drei oder vier Kindern steht der Stress sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben. Doch für Gefühle ist jetzt keine Zeit. Um 8.10 Uhr startet schließlich das Programm für die Mamas.

Jetzt sagt bloß, Erholung habt ihr euch anders vorgestellt?

Ich fühle mich elend. Bin traurig und wütend. Und würde ehrlich gesagt am liebsten direkt nach Hause fahren.

Aber ich wäre nicht ich, wenn ich sofort aufgeben würde. Stattdessen gehe ich zur Rezeption, erkläre meine Situation und bitte um ein anderes Zimmer. Schließlich sahen die auf der Webseite der Klinik doch viel schöner aus. Bei Google hat das Haus 4,5 Sterne. Die Rezeptionistin macht mir wenig Hoffnung. Erst auf der Krankenstation werde ich ernst genommen. „Ich bin wegen Erschöpfung und Schlafstörungen hier und bekomme ein Zimmer, in dem ich weder Ruhe noch Privatsphäre habe?“, frage ich die Schwester empört und merke, dass ich meine Tränen der Enttäuschung nicht länger zurückhalten kann.

Sie nimmt mich in den Arm und bringt mich zum Klinik-Arzt, der dann dafür sorgt, dass wir einen Tag später ein ruhiges – wenn auch ebenfalls runtergerocktes – Zimmer mit breitem Bett und hübschen Ausblick beziehen können. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft habe ich das Gefühl, innerlich zur Ruhe zu kommen.

Doch ich merke, dass der schlechte Start mir in den Knochen sitzt. In den nächsten Tagen fällt es mir schwer, mich auf irgendwas einzulassen. Nichts will mir recht gefallen. Überdeutlich sehe ich den Schmutz in den Fluren. Den Putz, der selbst in unserem neuen Zimmer sprichwörtlich von den Wänden fällt. Den Pool, der während unseres gesamten Aufenthaltes kalt bleibt. Die Salzgrotte, die müffelt und nicht funktioniert. Das verkochte Großküchen-Essen, mit dem die Klinik ihre eigenen Ernährungsempfehlungen sabotiert.

Und dann dieser vollgepackte Therapieplan! Eigentlich wollte ich auch mal ein wenig Ruhe haben. Doch die eng getakteten Anwendungen, die zum Teil überhaupt nichts mit meinem Beschwerdebild zu tun haben, aber „Pflicht“ sind, lassen das nicht zu.

„Hat sich eigentlich jemand meine Diagnosen angeschaut? Wissen die, dass ich alleinerziehend bin?“, frage ich mich. „Und was läuft hier eigentlich schief? Warum ist die Klinik so heruntergerockt? Weshalb wird hier überall gespart?“ Ich hadere mit mir. Schreibe Freundinnen und meiner Mama. Soll ich gehen oder bleiben?

Drei Wochen später schaue ich hinaus die Landschaft, die auch jetzt – wolkenverhangen – immer noch schön ist. Ich bin froh, geblieben zu sein. Es war keine leichte Zeit. Doch gerade in den letzten Tagen fühle ich mich angekommen.

Das liegt vor allem an der Gruppe von Mamas, mit denen ich mich inzwischen richtig gut verstehe. Von Anfang an haben wir an den Wochenenden gemeinsam etwas unternommen. Wunderschöne Wanderungen, unbeschwerte Stunden beim Staudamm-Bauen im Bach oder gemeinsame Besuche der Therme im Nachbardorf. So viele kleine Momente, die ich nicht vergessen werde.

Überhaupt habe ich hier so viel Solidarität erlebt. So viel Verständnis unter Frauen.

Froh bin ich auch für meinen Sohn. Er ist hier von Anfang an zufrieden und glücklich gewesen – bekam von meinen inneren Kämpfen kaum etwas mit, hatte kein Heimweh, wie sonst oft im Urlaub. In der Klinik-Kita gab es schnell zwei kleine Freunde und selbst die großen Jungs haben ihn wunderbar angenommen – halfen ihm im Bach über die Steine zu springen und nahmen ihn Huckepack, als er beim Wandern müde wurde.

Es ist mir wichtig, meinem Kind zu zeigen: Was wir uns vornehmen, das ziehen wir durch. Wenn’s mal unbequem wird, geben wir nicht gleich auf. Du kannst dich auf Mama verlassen. Was sie ankündigt, passiert. Und falls es schlecht läuft, setzt sie sich eben für uns ein. Deine kleine Welt ist stabil und berechenbar. Soweit das eben geht.

Manche der Mamas waren von der Kur auch tatsächlich begeistert. Andere haben sie abgebrochen, wie z. B. die beiden Vier-Kind-Mamas aus unserer Gruppe. Ich verurteile nichts davon. Jede von uns hat ihre eigene Perspektive und ihr eigenes Päckchen zu tragen. Was für mich richtig ist, kann für jemand anderen genau falsch sein.

Würde ich nochmal zur Mutter-Kind-Kur fahren? Sicher nicht.

„Im Grunde ist eine Mutter-Kind-Kur doch vor allem eine Väter-Erholungskur“, schreibt mir eine Freundin. „Die sitzen schön zuhause und müssen sich um nichts kümmern als sich selbst.“ Mein Kur-Ziel, „zur Ruhe kommen“, habe ich jedenfalls nicht erreicht. Dafür hätte ich ein schöneres, saubereres Umfeld sowie gesundes, abwechslungsreiches Essen und vor allem ein Programm gebraucht, das meinen Bedürfnissen als schlafloser, alleinerziehender Mami wirklich entspricht.

Hinzu kommt: Die älteren Kinder erhielten bei uns pro Tag nur eine Stunde „Hausaufgabenhilfe“ – ansonsten wurde gespielt. Spätestens nach der Kur ist eine große Portion extra Stress also vorprogrammiert. Ich weiß nicht, wie das in anderen Kliniken läuft. Überhaupt glaube ich, dass die Standards sehr unterschiedlich sind. Aber als zukünftige Schulkind-Mama wäre mir dieser Preis zu hoch.

Dennoch ist mir durch die Kur etwas Wichtiges bewusst geworden: Unser Leben in Leipzig ist verdammt schön. Ganz anders, als ich mir das mit Kind jemals vorgestellt hätte, und trotzdem in vieler Hinsicht genau richtig für mich. Und:

Die glücklichen Mamas sind nicht unbedingt die mit dem scheinbar ‚perfekten‘ Leben – Mann, Haus und Gartenzaun.

Es sind eher die unangepassten Mütter, die mit oder ohne Partner, frei von den Versprechen und Warnungen unserer Gesellschaft, das tun, was sich für sie stimmig anfühlt: Ü40 nochmal studieren. Im Wohnzimmer ein Yoga-Studio eröffnen. Mit dem immer noch wohlgelittenen Expartner ein zweites Kind als Co-Parents zeugen. Oder einfach allein mit Kids den Traum vom Landleben erfüllen.

Schöne Bilder und Texte – bei Anne gibt’s beides aus einer Hand. Als freie Redakteurin und Fotografin ist es ihr Job, spannende Themen aufzuspüren und gekonnt in Szene zu setzen. Das größte Projekt von allen wartet indes ungeduldig zuhause auf sie. Seit 2019 ist Anne stolze Mami eines kleinen, süßen Jungen – und das hat ihr Leben ordentlich durcheinander gewirbelt. Auf LAYERS berichtet sie von den Höhen und Tiefen ihres neuen Alltags.

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