Es ist einer der ersten trüben Nachmittage im Leipziger Herbst, als ich meine zweijährige Tochter aus der Kita abhole. Sie rollt mit ihrem Laufrad durch die Altbaustraßen unseres Viertels neben mir her, bevor wir die Haltestelle Richtung Hauptbahnhof erreichen.
Die Tram ist ziemlich gut gefüllt, doch ein türkisch aussehender Mann bietet mir seinen Sitzplatz an. Ich hebe meine Tochter auf den Platz, während ich versuche, das kleine Laufrad so zu halten, dass niemand die kleinen, vom nassen Laub etwas schmutzigen Rädchen abbekommt.
Vor dem Leipziger Bahnhof liegt seit kurzem eine Radspur und vier Autospuren.
In der Mitte befinden sich die Tram-Haltestellen. Deren Bahnsteige sind etwa drei bis vier Meter breit, zu den Seiten liegen wahlweise Tramschienen oder die Fahrbahnen für Autos, die durch ein Geländer abgeschirmt sind.
Wie immer um diese Zeit sind die Bahnsteige brechend voll, Hunderte Menschen laufen auf und ab in alle Richtungen. Instinktiv halte ich meine Tochter fest. Das Laufrad balancierend in der anderen Hand. Sie läuft neben mir, während wir vor der Ampel Richtung Nikolaistraße stehen bleiben. Hinter uns drängen sich dutzende Menschen, auf den vielleicht zwölf Quadratmetern stehen vielleicht 40 Menschen wie Schafe in einem Gehege. Nur, dass vor dem Übergang natürlich kein Geländer mehr steht.
Hier ist kein Ort zum Träumen.
Die Ampel wird gerade rot, ich halte meine Tochter fest. Im nächsten Augenblick rast ein weißer SUV an uns vorbei, es müssen 50 km/h sein. Der Blick des Fahrers ist nicht auf uns gerichtet, sondern auf die nächste Ampel.
Zwischen seinem zwei Tonnen schweren Auto und meiner Tochter liegen 50 Zentimeter. 50 Zentimeter, das ist ein Schritt.
Würde einer von uns von diesem Auto erfasst werden, wäre er mit ziemlicher Sicherheit tot.
In Deutschland sind im Jahr 2023 ganze 49 Millionen Autos unterwegs, im letzten Jahr wurde damit ein Höchststand erreicht, teilt das Statistische Bundesamt mit. Das sind 588 Autos auf 1.000 Einwohner:innen. Im Folgejahr wird mit einem gleichbleibenden Wachstum gerechnet, das sind 2,82 Millionen neue Autos. Auch in Leipzig nimmt die Zahl neuzugelassener Fahrzeuge weiter zu.
Auf dem so genannten Willi-Brand-Platz, der eher einer mehrspurigen Autobahn gleicht, rauschen heute Nachmittag vielleicht 15 Autos an uns weiter zur nächsten Ampel. Zu zweit sitzen sie dort drin, oft aber nur allein. Beim Tritt aufs Pedal kreisen deren Gedanken vielleicht um die Frage, ob ihr Rasenmähroboter heute Nachmittag zuverlässig den Vorgarten getrimmt hat oder ob sie ihr Kind heute noch zum Fußball fahren müssen.
Die 40 Menschen auf dem drei Meter breiten Streifen vor ihnen schauen ebenfalls nach vorn, als ihre Ampel auf grün schaltet. Mit einem Auge schaue ich vorsichtig noch einmal nach rechts, um auf Nummer sicher zu gehen. Auf dem folgenden Platz und der Nikolaistraße darf meine Tochter wieder auf ihr Laufrad. Mit ihren beiden Füßchen watschelt sie wie eine kleine Ente einmal rechts und einmal links, um auf Geschwindigkeit zu kommen.
In die Innenstadt gehe ich mit ihr eigentlich ganz gern, weil sie sich hier vergleichsweise sicher bewegen kann.
Allerdings ist die Straße noch ein weiteres Mal unterbrochen, eine Querstraße führt direkt zu einem großen Einkaufszentrum. Denn auch hier dürfen Autos fahren.
Heute überqueren die Straße dann doch recht viele Menschen, sodass die Autofahrenden vorsichtig anfahren. Wir können die Straße problemlos überqueren, weil einer der Autofahrenden geduldig wartet. Nur ein paar Meter weiter in Richtung Nikolaikirche hören wir jedoch ein lautes Knallen und Knattern. Wir drehen uns um und sehen einen Wagen durch die Straße brettern. Hier will offenbar jemand gesehen werden und wir sind darauf reingefallen. Nur müssen Fahrradfahrer in diesem Moment scharf bremsen, Passanten abrupt anhalten und Familien ihre Kinder festhalten, während der Fahrer vielleicht ein paar Sekunden Aufmerksamkeit genießt.
Wir laufen eine kleine Runde an der Nikolaikirche vorbei, schlendern durchs Schuhmachergäßchen. Ich denke mir: So schön könnte es sein.
Immer mehr Städte peilen die Vision einer autofreien Innenstadt an, etwa Hannover. Die Vorbilder liegen jedoch vor allem in Nachbarländern. Schon 2014 begannen die Planungen für eine autofreie Innenstadt im belgischen Gent.
Zahllose Vorbehalte und sogar Morddrohungen gegen den Bürgermeister habe es dort nach dem Beginn der Umsetzung des Plans im Jahr 2017 gegeben. Doch nun kann man dort bereits erste Schlüsse ziehen: „Auf dem Ring kommt es entgegen aller Befürchtungen sogar zu weniger Staus. Und es gibt nicht den leisesten Hinweis, dass die innerstädtische Wirtschaft gelitten hätte. Im Gegenteil: Die Zahl der Leerstände hat sich verringert“ lässt sich Ann Plas, die Büroleiterin des Bürgermeisters für Mobilität in der taz zitieren. Der Umstieg zur autofreien Stadt wurde dort innerhalb eines Wochenendes durchgezogen.
Wir laufen nun Richtung Reichsstraße, wo wieder Autos fahren dürfen. Offenbar hat man hier eigenes für ein Luxushotel eine Ausnahme gemacht, vor dem Gäste ihre SUVs und Sportwagen abstellen dürfen. Fairerweise muss man sagen: auch ein leiser Bus fährt hier durch, nur ist der weitgehend leer an diesem Nachmittag.
Meine Tochter wünscht sich nach ihrem Eis einen Spielplatz und der liegt dort gegenüber dem Museum für bildende Künste.
Es ist der einzige Spielplatz im Zentrum dieser Stadt.
Einen Schönheitswettbewerb würde dieser Spielplatz mit Sicherheit nicht gewinnen, zudem ist es eigentlich nur ein Streifen zwischen einer Promenade oder einer Straße, die weiterhin von Bussen befahren werden darf. Sonderlich anspruchsvoll ist meine Tochter gottseidank nicht, ihr reicht das kleine Trampolin aus.
Hier springen wir beide gut fünf Minuten Hand in Hand, bis sich ein kleines Mädchen in einem rosa Kleidchen nähert. Freundlich rufe ich ihr zu, sie soll doch mitspielen und mache behutsam einen Schritt zur Seite. Ihr Vater unterhält sich gerade mit seinen Freunden auf Arabisch, als dieser die Situation bemerkt. „Mirabella, sonst bist du auch nicht so schüchtern!“, ruft er ihr mit einem herzlichen Lächeln zu. Nach einigem Hin und Her spielen die beiden Mädchen zusammen. Die Mutter des kleinen Mädchens stößt irgendwann vollbepackt mit Shopping-Taschen dazu und ist von dem Anblick der beiden spielenden Kinder so entzückt, dass sie meiner Tochter eine kleine Schleife ins Haar steckt.
Etwas wehmütig verabschieden wir uns, bevor wir wieder aufbrechen. Da ich noch eine Besorgung machen möchte, laufen wir über den Wilhelm-Leuschner-Platz zurück zur Tramstation. Wieder müssen wir eine mehrspurige Fahrbahn überqueren.
Ich frage mich: Was würde besser werden durch eine autofreie Innenstadt? Wäre sie dann weiterhin eine Art Insel umgeben von diesen mehrspurigen Straßen?
In Gent soll es laut offiziellen Zahlen 25.000 weniger gemeldete Autos geben seit des Umbaus der Innenstadt.
An der Straßenüberquerung fahren heute Abend alle rücksichtsvoll an uns vorbei. Trotzdem stehen wir erneut gemeinsam mit Dutzenden Menschen auf einem drei Meter breiten Streifen inmitten dieser kleinen Autobahn, die unsere Innenstadt umringt. Ihren tonnenschweren Karossen zischen dann minutenlang an uns vorbei, während wir auf unsere Bahn warten. Zwischen ihnen und uns liegen nicht viel mehr als 50 Zentimeter.