Warum die schönsten Reisen im Kopf stattfinden

Während die Pandemie uns alle gerade zwingt, auf dem häuslichen Teppich zu bleiben, müssen wir uns mit unseren Sehnsüchten beschäftigen, statt einfach los zu reisen. Besser gesagt: Wir dürfen! Denn nie war die Gelegenheit besser, uns ganz unseren Träumen hinzugeben.

Der Strand von Bali, die schottischen Highlands, ganz Italien. Zu Beginn des Jahres, vor allem aber nach einem Jahr Pandemie, wünscht sich jede und jeder von uns in die Ferne, an Orte, die uns den großen Zauber versprechen. Wir erhoffen uns die Erlösung von dem immer wieder gleichen Tag, den wir nun bereits mehr als 365-mal in Dauerschleife durchlebt haben.

„Wir erhoffen uns die Erlösung von dem immer wieder gleichen Tag, den wir nun bereits mehr als 365-mal in Dauerschleife durchlebt haben.“

Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt: So alt ist der moderne Urlaub noch gar nicht. Vor dem 18. Jahrhundert war es weiten Teilen der westlichen Gesellschaft nicht möglich, Reisen ohne triftigen Grund zu unternehmen. Damals brachen bürgerliche Nordeuropäer auf, um sich, wie sie sagten, „zu bilden.“ Zu den wichtigsten Zielen der Engländer und Deutschen gehörten Rom, Florenz und Venedig.

Johann Wolfgang von Goethe etwa besuchte Italien vor 235 Jahren in zahlreichen Etappen, auf denen er nicht müde wurde, Exkursionen zu antiken Stätten und Gärten zu unternehmen. In seinen berühmten Tagebüchern gestand er bereits während seiner jahrelangen Reise ein, hoffentlich einen kleinen Teil der italienischen Mentalität mit in sein Leben in Deutschland übernehmen zu können.

Die Lust am Reisen speist sich unter anderem aus der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Wir wollen erkunden, was ein anderer Ort mit uns anstellen kann. „Was wäre, wenn ich hier leben würde?“ Diese Frage stellen wir uns am Strand von Mykonos, während wir eine riesige Schüssel voller fetter Bohnen vor uns stehen haben und später vor dem Hotelspiegel wieder den Bauch einziehen.

„Was wäre, wenn ich hier leben würde?“

Klar: Das Hinterfragen unseres Lebens ist immer leichter, wenn wir uns für einen Moment aus unserem Alltag befreit haben. Und je weiter weg wir kommen, desto weniger erinnert uns an das Leben zuhause. Das ist auch der Grund, warum wir manchmal so erbost sind, Landsleute im Ausland wieder zutreffen. Gerade die Unverständlichkeit einer fremden Sprache und die Exotik des Essens hilft uns dabei, die Umrisse unseres eigenen kulturellen Horizonts zu erkennen. Wir erfahren die Grenzen, die zwischen uns und dem Alter Ego an einem völlig anderen Ort auf der Welt stehen und kehren später ein wenig zufriedener mit uns selbst als vor dem Reiseantritt wieder zurück.

Wenn wir nun aber nicht reisen können, birgt das eine möglicherweise einzigartige Chance. Wir können diese Zeit nutzen, unsere Sehnsüchte zu erkunden. Zum Beispiel mithilfe von Filmen oder Dokumentationen. „Armchair-Travelling“ nennen es die Briten, das Erkunden der Welt vom eigenen Sessel aus. Zweifellos am besten dafür eignen sich Bücher, denn sie lassen die Bilder in unseren eigenen Köpfen entstehen. Denn Lust ist immer etwas ganz Individuelles, sie speist sich aus Erfahrungen, die wir bereits in unserer Kindheit gemacht haben und Bedürfnissen, die uns das ganze Leben begleitet haben. Sie wird immer größer, je länger wir sie füttern.

Reisen im Kopf stehen nicht im Wettstreit mit echten Reisen. Sie haben ihre ganz eigene Schönheit, die mit keinem echten Ort auf der Welt mithalten kann. Genießen wir es, solange wir können.

Richard Kaufmann ist freier Werbetexter und Autor. Von ihm erschien im Februar 2021 das Taschenbuch „Landreisen“ bei RAZ EL HANOUT in zweiter Auflage, eine Sammlung von Reiseanekdoten und Essays über das langsame, genussvolle Reisen.

Als Autor und freier Journalist ist Richard schon jahrelang mit der Forschung am guten Leben beschäftigt. Seine Themen sind Nachhaltigkeit, Zukunftsutopien und Reisen. Für LAYERS schreibt er über aufregende Reisen, die Schönheit der Langsamkeit im Alltag und das Leben als frisch gebackener Papa.

Schreibe einen Kommentar