Es gibt Skifahrerfamilien und solche, die es nicht sind. Die Wintervergnügen meiner Kindheit waren eher bescheiden. Nur an wenigen Tagen lag der Schnee auf den Feldern rund um unser kleines Dorf in der Altmark hoch genug, dass es sich lohnte, den alten Holzschlitten aus der Scheune zu holen.
Wenn wir Glück hatten, nahm sich dann ein Erwachsener Zeit, um meine Brüder, mich und ein, zwei Nachbarskinder mit dem Traktor Richtung Wald zu ziehen. Nur wir Einheimische kannten den kleinen Rodelberg. Eine kurze, steile Abfahrt, bei der man Grasbüscheln und Tannenzapfen ausweichen musste, um am Ende bloß nicht mit einer Kiefer zu kollidieren.
„Skiurlaub hätten meine Eltern sich mit uns drei Kindern gar nicht leisten können.“
Als wir kurz nach der Wende – wohlgemerkt im Sommer – zum ersten Mal noch mit Papas altem Lada Richtung Schweiz fuhren, war sich niemand im Auto sicher, ob wir wirklich dort ankommen würden. Im Winter hätten wir so ein Abenteuer bestimmt nicht gewagt.
Später als Erwachsene war mein Interesse am Thema Skifahren entsprechend gering. Ich habe die Berge zwar immer geliebt, aber komplett mit Sommerurlaub verbunden. Vor allem mit langen Wandertouren, bei denen man irgendwann erschöpft in idyllischen Almhütten einkehrt, leckeres Essen genießt, die Katze streichelt und abends in einem schönen Hotel entspannt.
Dass wir jetzt wider Erwarten unter die Skifahrer gegangen sind, habe ich nicht geahnt, geplant und genau genommen nicht mal wirklich gewollt. Am Anfang zumindest. Wie es dennoch dazu kam und warum das Ganze am Ende sogar zu einer echten Lektion in Sachen Selbstbehauptung ausgeartet ist, möchte ich euch heute gern erzählen.
„Mami, stell dir vor, wir könnten immer an so einem schönen Ort leben.“ Verschlafen und andächtig blicken mein Sohn und ich aus dem Fenster unseres Hotels. Wir befinden uns auf über 2000 Metern Höhe in Kühtai in Tirol. Über Nacht hat es wieder geschneit. Nun leuchten Himmel und Berge im frischen Morgenlicht rosa und blau. Was für ein magisches Stückchen Welt!
Wir müssen früh aufstehen. Für den Kleinen ist heute Ski-Schule angesagt. Der Kurs ist Teil unseres Arrangements – nicht bestellt, aber nice to have.
„Ich wäre auch mit Rodeln und Wellness glücklich, aber das Kind möchte gern Skifahren lernen und natürlich unterstütze ich es dabei.“
Während ich wenig später am Rand eines kleinen Hügels stehe, habe ich Zeit mich umzuschauen. Unser Ort grenzt aufgrund seiner Höhe direkt ans Skigebiet. In allen Richtungen bringen Sessellifte die Skifahrer hinauf in die Berge. Die roten und schwarzen Pisten enden direkt zwischen den Hotels. Es ist eine eigene kleine Welt, in der sich wirklich alles ums Skifahren dreht, mit eigenen Gepflogenheiten und Dresscodes, die ich noch nicht kenne.
Aber das stört mich nicht. Ich trage meine neue Winterjacke und kuschlige gefütterte Stiefel. Deshalb stehe ich hier mitten im Schnee und friere nicht. Ein super Gefühl! Die Sonne strahlt. Mein Kind ist beschäftigt und happy. Was erwarte ich mehr? Na gut, eine heiße Schokolade wäre jetzt nicht schlecht! „Pizza, Pizza“ höre ich stattdessen den Skilehrer brüllen, während mein Kleiner an mir vorbei den Hügel hinunter saust. Aber das hat nichts mit Essen zu tun, sondern mit Bremsen. Die Skier sollen dabei ein Dreieck bilden, wie Pizzastückchen eben.
Ganz schön schnell, denke ich noch und bin froh, als der Kleine unten auf dem Bauch einer geistesgegenwärtigen Skilehrerin landet.
„Bald dürfte ihm der Kinderhügel zu langweilig sein. Dann wird ihn jemand begleiten müssen. Und als Single-Mami komme dafür nur ich in Frage.“
Der Gedanken wächst: Ich muss Skifahren lernen! Und es wäre ja auch schön. Vor meinem inneren Auge sehe ich uns schon gemeinsam im Sessellift sitzen und nebeneinander durch den fluffigen Schnee wieder hinunterfahren. Gleichzeitig verspüre ich Unlust. Oder ist es vielmehr Angst? Aus den Augenwinkeln habe ich beobachtet, wie sich die Skifahrer und Snowboarder oben an der Bergstation in die Tiefe stürzen. Verdammt, das ist so steil, denke ich. Das schaffe ich doch nicht.
Aber ich sehe die Notwendigkeit. Und bin fest entschlossen, für mein Kind die weltbeste, mutigste und zukünftig auch skifahrende Mami zu sein. Ich greife tief ins Portemonnaie und buche einen privaten Skilehrer. Die erste Stunde läuft perfekt.
Der Lehrer ist nett und die Übungen leicht. Ich bin ausdauernd und kann auch mal die Zähne zusammenbeißen, wenn es anstrengend wird. Am Ende fahren wir gemeinsam die blaue Piste hinunter. Ich bin noch etwas ängstlich und unsicher, aber immerhin: Es klappt!
Meine zweite Übungseinheit am nächsten Tag verläuft dann weniger glücklich. Typisch Anne, stehe ich oben am Hügel und stelle mir die Abfahrt viel schlimmer vor, als sie eigentlich ist.
„Der Schnee, der gestern noch so zauberhaft leuchtete, scheint mir heute wie ein weißes Nirvana.“
Ich sehe nichts. Finde keinen Anfang. Und erst recht nicht meine Mitte.
Der Skilehrer will Tempo sehen. Die Stimmung ist zunehmend angespannt.
Bei jeder Abfahrt soll ich eine neue Übung meistern. Andere machen das angeblich viel besser als ich. Ich möchte mich am liebsten auf den Po fallen lassen. Stattdessen heißt es: Tempo! Dann will mein Skilehrer auf einen noch höheren Hügel hinaus. Ich schniefe. Oben angekommen bin ich verzweifelt: „Das ist zu steil. Ich schaffe das nicht!“
„Willst du aufgeben?“ fragt er mich. Ich schmeiße ärgerlich hin und frage mich, ob der Skilehrer mich aus Versehen oder mit Absicht überfordert. Ich verstehe die Welt nicht mehr. War’s das jetzt schon mit Skifahren für mich? Die Lust ist mir echt vergangen. Aber was ist mit meinem Kleinen? Ich mobilisiere meine Kräfte. Skifahren kann ich vielleicht nicht so gut, aber dafür Schreiben.
Also schicke ich der Skischule eine lange Mail über meinen Wunsch, für mein Kind Skifahren zu lernen, meine Ängste und die Hoffnung auf einen Skilehrer, bei dem ich mich sicher und verstanden fühle. Am Rande der Skipiste werde ich später vom Chef des Skischule angesprochen. Er verspricht mir eine weitere kostenlose Übungseinheit mit einem anderen Lehrer, gibt aber auch zu bedenken: „Vielleicht ist Skifahren nichts für dich.“
„Leider bin ich in solchen Situationen selten schlagfertig und immer zu nett.“
„Ihr alten Herren wollt mir also weismachen, wo meine Grenzen sind…“– Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich. Und zögere dann doch. Versuche ich etwa, mir mein eigenes Scheitern als systemisches Problem schönzureden?
„Nein“, sagt meine Freundin Lisa später beim Kaffeetrinken in Leipzig. „Dein Ärger war berechtigt, was denken sich diese Kerle!“ Sie berichtet mir, wie ihr erster Fahrlehrer behauptet hat, sie fahre furchtbar schlecht, sodass sie damals ebenfalls wechseln musste. „Mir hat mal ein Lehrer gesagt, dass meine Hände zu klein sind, um Keyboard zu lernen. Ich habe mich danach nie wieder für den Musikunterricht interessiert“, schreibt mir meine Freundin Anne aus London.
Es hat nicht viel gefehlt und mir wäre es beim Skifahren ähnlich gegangen.
„Mit viel Überwindung traue ich mich zur Skistunde mit dem neuen Lehrer.“
Und ich werde nicht enttäuscht: Mein schottischer Skilehrer Collin ist vom ersten Augenblick an so nett und empathisch, dass mir vor Erleichterung fast die Tränen kommen. In nur zwei Stunden schafft er es, dass ich mich den Hügel endlich allein runtertraue und die Freude am Skifahren zurückgewinne.
Einen Tag später ist auch mein Kind so weit: Einen kurzen zauberhaften Glücksmoment lang sausen wir nebeneinander durch den Schnee, winken und freuen uns.
„Danach sehe ich seinen roten Helm nur noch von hinten. Bremsen ist scheinbar nicht sein Ding.“
Als ich unten ankomme, wartet mein kleiner Mann lachend auf mich. „Mama, ich bin viel schneller als du.“ So ungewohnt! So schön!
Ich werde noch einige Skistunden brauchen. Es wird mich Überwindung kosten und Geduld. Und ohje – auch viel Geld. Wahrscheinlich werde ich trotzdem mein Leben lang nur auf blauen und gelben Pisten fahren. Aber auch damit kann ich leben. Viel wichtiger ist doch:
„Ich habe mich nicht entmutigen lassen. Ich hab’s durchgezogen, statt aufzugeben.“
Und wer immer das gerade braucht: Wenn ich das kann, schaffst du das auch!