Was es 2024 bedeutet hat, eine Frau zu sein

„Stell dir vor, ich dürfte mit keinem Menschen mehr sprechen, niemand dürfte meine Stimme hören – nicht bei der Arbeit, nicht beim Bäcker, nicht beim Arzt.“ So ungefähr habe ich kürzlich morgens im Bett versucht, meinem fünfjährigen Sohn die Situation der Frauen in Afghanistan zu erklären. Er weiß bereits, dass es Länder gibt, in denen Frauen sich verschleiern müssen und die Männer alles bestimmen können. „Aber mit mir dürftest du sprechen?“, fragt er mich. Mein „Ja“ beruhigt ihn und wir starten in den Tag.

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Trotzdem lässt mich die Situation während der nächsten Stunden nicht los. In den erstaunten Augen meines Kindes, seiner Sorge, sehe ich meinen eigenen Schrecken. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Und wie kann es sein, dass sich die Situation für Frauen 2024 gefühlt überall verschlechtert hat? Afghanistan ist dabei gewiss das plakativste und schlimmste Beispiel.

Seit diesem Sommer verbieten die Taliban Frauen tatsächlich komplett, in der Öffentlichkeit zu sprechen.

Nicht mal Frauen dürfen die Stimmen anderer Frauen hören. Noch mehr Unterdrückung geht fast nicht mehr. Im Irak diskutierte das Parlament derweil, das Heiratsalter für Mädchen von 18 auf 9 Jahre zu senken. Vergewaltigung von Kindern per Gesetz erlaubt – unter dem Deckmantel von Kultur und Religion. In den USA wurde gerade ein verurteilter Sexualstraftäter mal wieder zum Präsidenten gewählt und Rechtsextremist und Trump-Fan Nick Fuentes geht mit „Your body, my choice. Forever.“ viral. Und von Russland aus bedroht nun seit über 1000 Tagen ein anderer alter, weißer Mann die Welt.

Indien, das Land meiner Hippie-Teenager-Mädchen-Träume, wird immer wieder erschüttert von grauenhaften Gruppenvergewaltigungen. Aber in Europa sieht es auch nicht viel anders aus. Frankreich erlebt gerade den Prozess gegen 50 der wahrscheinlich über 80 Männer, die Gisèle Pelicot, mit „Erlaubnis“ ihres Ehemanns betäubt und schlafend vergewaltigt haben sollen – rekrutiert im Umkreis von nur wenigen Kilometern.

Was unterscheidet diese Durchschnittsmänner von den Durchschnittsmännern rund um mein Zuhause? Wahrscheinlich nicht so viel. Wieso sollte es auch?

In Deutschland stirbt laut neuestem Bericht Lagebildes des Bundeskriminalamts fast jeden Tag eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Expartners.

Straftaten gegen Frauen steigen in allen Bereichen. Frau sein und einen eigenen Willen oder wenigstens eigene Bedürfnisse zu haben, das ist auch hier gefährlich. Und die Welt schaut zu. Gut, ein paar Frauen beschweren sich. Aber ich sehe nicht, dass hier viel passiert. Selbst die durchaus emanzipierten Männer in meinem Umfeld blicken mich nur betroffen an, wenn ich davon erzähle. Bei der Debatte um das neue „Gewalthilfegesetz“ – komischer Name übrigens – das nun kurz vor den Neuwahlen noch im Bundestag Thema ist, beteiligten sich nur Frauen. Das Gesetz soll dafür sorgen, dass Opfer „geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt“ in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe erhalten – ab 2030. Vielleicht. Wenn es denn überhaupt beschlossen wird.

Wie kann es sein, dass 2024 das eigene Zuhause immer noch der gefährlichste Ort für eine Frau ist? Und dass wir wieder mal darüber diskutieren müssen, ob wir zutiefst persönliche Entscheidungen über unser Leben und unseren Körper überhaupt selbst treffen dürfen?

Wie sollen wir mit all dem leben? Damit klarkommen, ohne komplett das Vertrauen in Männer, aber irgendwie auch in unsere Gesellschaft insgesamt zu verlieren?

Also, einfach Augen zu, Nachrichten weg und lieber durch Instagram scrollen? Aber dort blinzeln mich plötzlich so viele Tradwives an. Hübsche Mädels in ihren Zwanzigern, die es als Fortschritt betrachten, als traditionelle Hausfrau und Mutter wieder hinterm Herd zu stehen.

Ist ja auch so romantisch, abhängig von seinem Mann zu sein, oder? Naja, zumindest bis er euch sitzen lässt – denn die Freiheit hat ER ja – und die Altersarmut winkt.

Ok, ich spüre Frust und Sarkasmus in meiner Brust. Liegt das etwa an meiner – inzwischen online ebenfalls vielmals beschworenen – fehlenden „weiblichen Energie“? Könnte tatsächlich sein. Die männliche Energie steht für das Handeln, Struktur und Dominanz, verrät mir Google. Die weibliche für Sanftmut, Empfangen und einfach Fließenlassen.

Die Ideologie der neuen Rechten kann so schön klingen, dass weder manche Promis noch Heilpraktiker merken, aus welchem braunen Sumpf diese Schwurbeleien kommen. 

Passt ja auch perfekt zu einer Menschheitsgeschichte, in der Frauen permanent unterdrückt und weibliche Errungenschaften einfach ignoriert oder vergessen wurden. Und was sind schon die letzten 150 Jahre Emanzipation der Frau?

Wenn man also nicht in seiner weiblichen Energie ist – so wie ich gerade, weil ich draußen in der harten Arbeitswelt mein eigenes Geld verdiene und auch noch Nachrichten lese statt Kuchenrezepte – ist das übrigens ganz übel. Stress und schlechte Laune sind da vorprogrammiert. Schließlich bin ich als Frau nicht dafür gemacht. Das Schlimmste aber ist: Ich werde so niemals meinen „Provider“ finden. Diesen starken, männlichen Typen, der mich versorgt und leitet, ja, mal auf gut Deutsch gesagt: meinen persönlichen Führer.

Das wäre fast lustig, wenn es nicht alles so unfassbar ernst und erschreckend wäre. Kann mir irgendjemand mal erklären, was hier gerade passiert? Vergessen wir unsere Geschichte? Ist die Sehnsucht nach einfachen Lösungen echt so groß? Stehen wir vielleicht vor so einer Art natürlicher Dynamik? Ein Rückschritt, der kommen muss, bevor wir uns als Gesellschaft hoffentlich wieder vorwärtsbewegen? Oder verdummen wir einfach nur?

Ich meine, ganz ehrlich: Die mächtigste Person der Welt wird jetzt wieder Donald Trump. Punkt.

Und wenn man sieht, wie viel Mist Männer gerade in der Welt verzapfen, dann sollte man doch lieber sagen: Männer an den Herd, statt Frauen. Forever.

Whether they like it or not. Da kann wenigstens nicht so viel schiefgehen.

Manchmal frage ich mich schon: Wird der letzte Kampf vielleicht der zwischen Männern und Frauen sein? Aber dann schaue ich meinen neuen Freund an, der gerade so süß und friedlich auf dem Sofa eingeschlafen ist. Ich denke an meine lieben Brüder. An die hilfsbereiten Nachbarspapas in unserem Haus. An die vielen smarten, engagierten Menschen, die ich von meiner Arbeit kenne. Nein. Es ist eben doch nicht so schwarz-weiß. Das gibt mir Hoffnung auch in Bezug auf mein Kind.

Liebe kluge, sensible Männer, bitte seid nicht still.

Lasst es euch etwas angehen. Wir brauchen euch, an den vielen kleinen und großen Stellschrauben dieser Welt. Genauso wie ihr uns. 

Schöne Bilder und Texte – bei Anne gibt’s beides aus einer Hand. Als freie Redakteurin und Fotografin ist es ihr Job, spannende Themen aufzuspüren und gekonnt in Szene zu setzen. Das größte Projekt von allen wartet indes ungeduldig zuhause auf sie. Seit 2019 ist Anne stolze Mami eines kleinen, süßen Jungen – und das hat ihr Leben ordentlich durcheinander gewirbelt. Auf LAYERS berichtet sie von den Höhen und Tiefen ihres neuen Alltags.

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